Die Verpflichtung zum Mutmachen

Unter dem Schutthaufen der Zeit hüte ich die Hoffnung – Tamar Radzyner

  • Warum es moralisch wichtig ist, anderen guten Willen zu unterstellen
  • Warum wir magisch fixiert sind auf das Negative
  • Zum Abschluss: die mutmachende Lyrik der Tamar Radzyner

Es sind oft einzelne kraftvolle Sätze, die einen persönlichen Lebensturbo zünden. Sie tragen dann weit und dauerhaft. Darum liebe ich die Philosophie, weil dort solche Sätze zuhauf darauf warten, gepflückt zu werden. Einer von meinen Sätzen stammt von Carl Popper und lautet: Es ist sittlich richtig, das Positive zu anzunehmen.

Der Satz hat eine Schärfe, die, wie bei gutem Chili, nicht sofort am Gaumen alles verätzt. 1/ Das Positive sehen zu können, 2/ angesichts unangenehmer Machenschaften zuerst einmal das Positive anzunehmen und zu erwarten, 3/ dem Menschen zuerst einmal immer guten Willen zu unterstellen, … all das ist eine Lebenshaltung. Aber keine, die ich beliebig wählen kann, sondern es besteht dazu – laut Popper – eine sittliche Notwendigkeit. Heute würde man vielleicht sagen: eine moralische Verpflichtung. Das Gegenteil davon – nur das Negative sehen, das Schlimmste anzunehmen und Menschen generell für Gauner zu halten – ist demnach ethisch verwerflich.

Darum habe ich meinen Medienkonsum seit Jahrzehnten selektiv gestaltet. Ich lasse es nicht zu, dass meine Wahrnehmung mit Tod und Verderben geflutet wird. Headlines genügen, manchmal sind auch die schon zuviel. >> Hier ein Text über die Notwendigkeit des selektiven Medienkonsums.

Einer kotzt. Alle machen mit.

Dass wir so magisch fixiert auf das Negative sind, hat genetische Bedingungen. Wenn Gefahr drohte, war es eminent wichtig, entsprechende Warnungen sofort weiterzugeben und sofort darauf zu reagieren. Es war günstig, das Geräusch hinter dem nächsten Busch nicht gleich positiv zu deuten. Besser erst Warnung geben und nachher entspannen. Wenn in einer Rattenkolonie eine Ratte ihr Essen erbricht, dann kotzt sofort die ganze Kolonie. Das ist ein archaischer Mechanismus. Das Essen könnte vergiftet sein. Eine kotzt, alle machen mit.

Da wir in der Menschheitsgeschichte ein klein wenig vorangekommen sind, könnten wir dieses Prinzip hinter uns lassen. „Einer kotzt, alle machen mit“, mag zwar gelebter Alltag in Online-Foren und in Teilen der Politik sein, widerspricht aber fundamental dem Verständnis von Menschsein. Daher ist Poppers Satz ein Manifest der Menschwerdung. Er zeigt, wo wir sind. Wir haben Ethik, wir haben Moral, wir kommen nur weiter, wenn wir einander das Gute unterstellen und wenn wir es miteinander realisieren, denn alleine geht es nicht. Also besteht die sittliche Verpflichtung, das Positive anzunehmen.

Bin ich Konstrukteur, oder bloß eine Abrissbirne?

„Annehmen“ heißt ja nicht nur „etwas vermuten“, sondern auch „etwas entgegen nehmen“, die Hände zu öffnen und jemand anderer legt etwas hinein. Wenn es sittlich richtig ist, das Positive anzunehmen, dann heißt es beides: das Positive zu vermuten und auch: sich das Positive, Gute und Schöne schenken zu lassen. Was also lege ich selbst in die Hände von anderen? Bin ich KonstrukteurIn, oder bloß eine Abrissbirne?

Eine Lehrstunde im Mutmachen erhält man von Tamar Radzyner. Sie war im Zweiten Weltkrieg im kommunistischen Widerstand und überlebte drei Konzentrationslager. Polen wurde nach 1945 kommunistisch. Radzyner musste auch vor diesem Regime fliehen und kam Ende der 50er-Jahre nach Wien. Ihre Prosa-Lyrik strahlt jenen Mut zum Mutmachen aus, der niemals naiv oder blind ist – sondern im Sinne Frankls trotzdem ja zum Leben sagt.

„Wieder“ von Tamar Radzyner

Wieder brachte ich Kinder zur Welt
als ob ich nicht wüßte
wie mühelos
ein Kinderschädel
zerquetscht wird.

Wieder baute ich ein Haus
als ob ich nicht wüßte
wie man unter den Mauertrümmern
erstickt.

Wieder binde ich mich an Menschen
als ob ich nicht wüßte
daß die einem als erste
weggenommen werden.

Ich habe nichts dazugelernt.
Unter dem Schutthaufen der Zeit
hüte ich die Hoffnung.