Der Neurologe Gerald Hüther propagiert eine Kultur, die es Menschen erlaubt, das eigene Potenzial zur Entfaltung zu bringen. Das Gespräch führte Christoph Quarch im Jahr 2012. Ich habe es mit freundlicher Genehmigung in einer Printausgabe meines Magazins WIRKS verwendet. Foto von Sven Nieder (www.sven-nieder.de).
Jedes Kind ist hochbegabt. Jedes Neugeborene, das das Licht der Welt erblickt, ist genetisch mit einem Gehirn ausgestattet, das mehr Nervenzellen und mehr Vernetzungen aufbaut als tatsächlich gebraucht werden.
Gerald Hüther muss es wissen. Er ist renommierter Hirnforscher aus dem deutschen Göttingen und tritt für eine neue Kultur des Denkens ein. Das schier grenzenlose Potenzial an Möglichkeiten ist für Hüther die Voraussetzung dafür, dass Kinder sich auf ganz unterschiedliche Weise entwickeln können – je nachdem, in welchem Umfeld sie aufwachsen und auf welche Weise sie von ihren Eltern geprägt werden. Deswegen ist es möglich, dass bei gleichen genetisch-physiologischen Voraussetzungen ein Inuitkind in Grönland ganz andere geistige Fertigkeiten entwickelt und ein anderes Gehirn bekommt als ein Indianerjunge im Amazonasdelta. „Das allein zeigt, wie absurd die These von der genetischen Determiniertheit des Menschen ist“, unterstreicht er. Wenn das stimmt, dann ist der Mensch – wenn überhaupt – zur Freiheit bestimmt; zur Freiheit, sich nach Maßgabe der jeweiligen Umgebung auf deren jeweilige Erfordernisse einzustellen.
Das Bedeutsame geht unter die Haut
Das geschieht aber anders, als wir uns das vorstellen. Das ist Hüther wichtig: Die Prägung durch die Umwelt vollzieht sich nicht unmittelbar, sondern über den Umweg der Bedeutung. Wer heranwächst, erklärt er, macht die Entdeckung, dass es in dieser gigantischen Flut von Eindrücken, die auf ihn einwirken, einiges gibt, das wichtig ist, „das für ihn, in seiner Welt, subjektiv, bedeutsam ist; was für den kleinen Amazonasindianer naturgemäß ganz etwas anderes ist als für den kleinen Inuit. Das Bedeutsame“, so Hüther weiter, „geht unter die Haut. Man hat dann nicht nur etwas gelernt, sondern man hat eine eigene Erfahrung gemacht. Und dabei werden eben nicht nur kognitive, sondern auch emotionale Bereiche im Gehirn aktiviert.“ Das heißt: „Immer dann, wenn man eine wichtige Erfahrung macht, wird diese viel tiefer verankert als jeder andere vorübergehende Eindruck oder ein nach Lehrplan eingepaukter ,Lerngegenstand’.“
Es braucht Begeisterung
Man kann nur dann nachhaltig etwas im Gehirn verankern, wenn man sich dafür begeistert. Dann, so Hüther, passiert etwas in unserem Gehirn: Die emotionalen Zentren werden aktiviert, neuroplastische Botenstoffe werden ausgesandt, die „wie Dünger“ die dabei aktivierten neuronalen Netzwerke im Gehirn stärken und festigen. Das ist der Grund dafür, dass man immer dann leicht lernt und zur Meisterschaft heranwächst, wenn man von etwas begeistert und emotional berührt ist. Und das ist auch die Erklärung dafür, warum man mit Fug und Recht sagen kann, dass wir uns unser Gehirn selbst programmieren – nach Maßgabe dessen, was wir als bedeutsam und wichtig erleben.
Das Hirn gestaltet sich selbst
Wir sind zur Kreativität geboren. Unser Gehirn gestaltet sich selbst – und zwar nach Maßgabe dessen, was unter die Haut geht, wofür unser Herz schlägt. Und es folgt dabei zwei – wenn man so will – fundamentalen Erfahrungen, die wir schon vor unserer Geburt gemacht haben und fortan unserem Entwicklungsstreben die Richtung geben: „Verbundenheit und Freiheit – Freiheit verstanden als das Streben nach Aufgaben, an denen man wachsen kann, Kompetenzerwerb, Autonomie. Darum, sagt Gerald Hüther, geht es uns ein Leben lang: Wir wollen gleichzeitig verbunden sein, aber auch wachsen, autonom und frei werden. Und weil sich beides vordergründig widerspricht, geht es uns allem voran darum, ein gutes Gleichgewicht zwischen diesen beiden großen Prinzipien des Lebens zu verwirklichen; was, wie er freimütig eingesteht, zuweilen wie die Quadratur des Kreises erscheint. Doch gerade das begeistert Gerald Hüther: „Wenn Dinge unvereinbar scheinen – wenn wir sowohl das eine als auch das andere wollen –, dann ist das die Sternstunde für unsere eigene Weiterentwicklung. Dann ist das ein Festtag fürs Gehirn. Nichts nährt es so sehr wie ein Dilemma.“
Wobei ihm wichtig ist, Dilemma nicht mit Krise zu verwechseln. Krisen lassen sich lösen, indem man eine verloren gegangene Balance wiederherstellt, indem man mehr vom Alten auf die eine oder andere Seite packt. Einem Dilemma hingegen kommt man so nicht bei. Die Lösung für ein Dilemma heißt deshalb auch nicht Reform, sondern Transformation.
Was könnten wir sein?
Gerald Hüther erlaubt es sich, nicht nur der wissenschaftlich-empirischen Frage „Was sind wir?“ nachzugehen, sondern auch laut darüber nachzudenken, was wir sein könnten. Und wie wir dazu kommen, unser Potenzial zu entfalten; oder was uns daran hindert: ungünstige Erfahrungen, die Menschen allzu oft und meist schon als Kinder machen müssen. „Wir werden nur zu denen, die wir sein könnten, wenn nicht ständig jemand an uns rummacht; weil er uns nach einem bestimmten Bild oder Ideal formen möchte“, erklärt er – nicht ohne zu erwähnen, dass Letzteres in unseren Schulen leider noch allzu oft geschieht. Mit einer unausweichlichen Folge: „Wenn ein Kind nicht mehr das Gefühl hat, so wie es ist, richtig zu sein, dann verliert es sein Gefühl der Verbundenheit. Und es verliert auch das Gefühl, seinem Bedürfnis nach Freiheit und Kreativität nachgehen zu dürfen. Wenn das geschieht“, sagt er, „erlebt das Kind Stress. Es schaltet um auf den Modus: ‚Ich habe ein Problem.‘ Und nun braucht dieses Problem alle Aufmerksamkeit. In so einer Situation kann man nicht mehr lernen, nicht mehr spielen, nicht mehr kreativ sein. Dann leidet man. Und im Gehirn werden dieselben Netzwerke aktiviert, die auch dann eingeschaltet werden, wenn einem körperliche Schmerzen zugefügt werden.“ Das Leben wird dann eng und schwer.
Ersatzbefriedigung Karriere & Co
Aber es kommt noch schlimmer. Denn in ihrer Not suchen sich auf diese Weise bedürftige und leidende Menschen irgendwelche Ersatzbefriedigungen: Essen, Karriere machen, andere bekämpfen. Mit üblen Folgen, weil nun, so erläutert er, die kleinen Triumphe im Kampf gegen die Konkurrenten als bedeutend erlebt werden und das Begeisterungszentrum aktivieren. Das Hirn schüttet Glückshormone aus, wir freuen uns und wollen so etwas wiederhaben. Was zur Folge hat, dass man immer erfolgreicher in der Kunst der Ersatzbefriedigungen wird – obwohl man in Wahrheit nur immer tiefer in den Sog der Unverbundenheit und Unfreiheit gezogen wird: Man wird verbissen, verliert seine Offenheit, Neugier, Beziehungsfähigkeit. Das Denken und Fühlen wird flach, eindimensional, unempfindlich. Offenheit, Entdeckerfreude und Gestaltungslust sind dann verschwunden.
Wir wollen etwas dafür tun, dass diese Welt besser wird.
In manchen Schulen werden Hüthers Anregungen bereits konkret. Etwa in Berlin-Mitte. In der dortigen evangelischen Gesamtschule geht Schule anders. Dort wird nicht ein Lehrplan durchgepaukt, sondern dort fragt die Lehrerin ihre Schüler: „Was würdet ihr eigentlich gern lernen?“ – Die Antwort der Schüler ist meistens dieselbe: „Wir wollen etwas dafür tun, dass diese Welt besser wird.“ Und dann überlegen Schüler und Lehrer gemeinsam, was man tun kann. Und was man dafür wissen muss. Daraus entsteht dann ein Curriculum, das die jungen Leute selbst geschaffen haben – was eine ganz andere Lust am Lernen freisetzt. „So entsteht Begeisterung“, schließt Hüther sein Beispiel und setzt noch eins drauf, indem er sagt: „Und geteilte Begeisterung stiftet Gemeinschaft.“
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