Verzicht – eine Kulturtechnik

Der Umgang mit Mangel ist Lebendigkeit.

Hans im Glück ist ein bezauberndes Märchen, das aus der Sicht unserer heutigen Kultur einen Idioten beschreibt. Er hat durch Arbeit ein Säckchen Gold erwirtschaftet, mit dem er nun nach Hause zu seiner Mutter zieht. Auf diesem Weg tauscht er solange, bis er nichts weiter als den Wetzstein eines Scherenschleifers besitzt. Den verliert er dann auch noch. Dann kommt er endlich mit Nichts zuhause an. Mit „Nichts“?!

An diesem Punkt der Geschichte ist unser auf Besitz und Wachstum gedrilltes Gehirn bereits kollabiert. Es versäumt damit den schönen Schluss. Seine Mutter, die wir sinnbildlich als Mutter Erde verstehen dürfen, empfängt ihn in Liebe. Sie stellt keine Frage nach Geld oder Besitz. Sie freut sich einfach, dass ihr Kind wieder da ist und es ihm augenscheinlich gut geht. Hans ist im Glück, weil er geliebt wird, so wie er ist. Er hat am Markt schlecht getauscht und sich übertölpeln lassen. Nun gut, Ökonomie ist ein Spiel und er hat es nicht gut gespielt. Aber mit seiner Lebenszufriedenheit hat das nichts zu tun.

Wie zahlreich sind doch die Dinge, deren ich nicht bedarf

Corona erteilt uns gerade eine Lehre in Nichts, in Loslassen, in Verzicht. Es gibt zwei Arten von Verzicht. Zum einen den Verzicht auf Dinge, von denen wir dachten, dass man auf sie nicht verzichten kann, weil sie so selbstverständlich in unseren Alltag eingewoben waren. Flüge in alle Ecken der Welt um den Preis einer Kinokarte, Erdbeeren im Winter, allerlei Tand und Schnickschnack. Wir sind Kinder von Entbehrungsgenerationen der Weltkriege und haben den Aufbau, wo alles immer besser und schöner und mehr wurde, eingespeichert – so sehr eingespeichert, dass wir Konsum als Freizeitbeschäftigung betrachten. Die Besorgung von lebensnotwendigen Gütern war für unsere Vorfahren eine existentielle Sorge. Heute ist das Einkaufen von Waren eine Belustigung und ein Zeitvertreib. Damit zeigen wir dem Existenzkampf den Mittelfinger. Und jetzt kam Corona und schenkte uns die Erfahrung von Sokrates, der einst mit einem Freund über den Marktplatz von Athen ging, stehen blieb und kopfschüttelnd meinte: „Wie zahlreich sind doch die Dinge, deren ich nicht bedarf.“

Verzicht ist Befreiung

Genau diese Art von Verzicht ist uns als erstes widerfahren. Wir merken: wir sind von Menschen zu Konsumenten geworden, die sich bereit erklärt haben, als Zwischendepots für unsinnige Güter zu dienen. Junk wird produziert, kurz in unseren Kleiderschränken, Regalen und Kästen zwischengelagert und dann entsorgt. Nicht die unsinnigen Güter zahlen dafür, dass sie bei uns unseren Platz beanspruchen dürfen, sondern wir selbst bezahlen für unsinnige Güter und stellen sie bereitwillig in unserem Lebensraum ab. „Verzicht“ ist also ein Weglassen von auf Dingen, die wir aufgrund ihrer Fülle gar nicht konsumieren können, die sich als unnötig und persönlich nicht systemrelevant erwiesen haben. Dieser Verzicht ist in Wahrheit gar keiner. Er ist vielmehr eine Reinigung und Befreiung.

Zugleich gab es pittoreske Effekte. Delphine im Bosporus, der meist befahrenen Meeresstraße der Welt. Ein Himmel ohne Kondensstreifen. „Ich war mit meinen Kindern radfahren am Montag Vormittag.“ (freudig erregte Schilderung eines Unternehmers am Telefon beim ersten Lockdown). In der Ökonomie beschleunigt Corona nachhaltige Prozesse, die ohnehin notwendig waren. Der Finger wurde in die Wunde gelegt bei weltweiten Lieferketten, Zuständen in der Fleischindustrie und im Massentourismus. „Verzicht nimmt nicht, er gibt“, formulierte es der Philosoph Martin Heidegger.

Fasten ist Verbundenheit mit der Ursuppe

Und dann gibt es den Verzicht, der seinen eher Namen verdient. Es ist der Verzicht auf das Essentielle, auf das, was wirklich wichtig ist. Ein klassischer Verzicht ist das temporäre Weglassen von Essen, was „Fasten“ genannt wird. Man unterschreitet dabei die für den Alltag notwendige Energiezufuhr. Die Betonung liegt hier auf „temporär“. Der dauerhafte Verzicht auf Essen hieße nicht Fasten sondern Hunger oder gar: Verhungern. Aber eine zeitlang zu Fasten, gehört zu den Kulturtechniken der Menschen.

Durch das Fasten sind wir mit der Ursuppe verbunden. Eine Situation des Mangels ist jedem Organismus von Anbeginn an vertraut und der Umgang mit Mangel ist Lebendigkeit. Das Leben entwickelt sich immer entlang der Grenze von Essen und Hungern, Haben und Verzichten, ja oder nein. Wer dem Tod in’s Antlitz blickt, lebt. Der Mensch mag zwar von ihm bedroht sein, ist aber noch nicht dort. Er ist hier im Leben und wird es behalten wollen. Das Leben rechnet damit und tut etwas dafür. Es versorgt seine Wesen mit einem zufriedenstellenden Umgang mit Mangel. Wir haben in uns, im Alltag gut verborgen, einen alternativen Stoffwechsel, der es erlaubt, Energie bereitzustellen, auch wenn von außen keine Nahrung kommt. Es ist ein Schritt ins Unbekannte, der Vertrauen braucht. Für Cineasten: Indiana Jones ist in die Leere gestiegen und plötzlich ist die Brücke über den Abgrund aufgetaucht. Diese Filmszene hat etwas absurd Magisches, doch irgendwie ist es mit dem Fastenstoffwechsel ebenso. Er tut sich erst dann auf, wenn wir in den Abgrund des Nichtessens steigen.

Wir sind Kinder im Glück

Jeder ernsthafte Verzicht findet an so einer Schwelle zwischen Sein und Nichtsein statt. Und vielleicht dürfen wir darauf vertrauen, dass der Körper auch für andere Arten des Verzichts einen „alternativen Stoffwechsel“ bereitstellt. Wir als menschliche Gemeinschaft haben ebenfalls unseren gesellschaftlichen Stoffwechsel und haben es dort zur Genüge mit Macht, Gewalt und Konkurrenz probiert. Und der „Verzicht“ darauf könnte einen alternativen sozialen Stoffwechsel zu Tage fördern. Wir verfügen über die Kulturtechniken der Kooperation und der Liebe. Das kann sich natürlich niemand vorstellen, so wie sich Leute, die noch nie gefastet haben, das Nichtessen nicht vorstellen können. Verzicht ist grundsätzlich etwas freiwilliges, ein Abenteuer, eine Versuchsanordnung – eine Kulturtechnik mit Erleuchtungspotential. Wir alle sind Kinder im Glück, die zu ihrer Mutter heimkommen und nichts mitbringen müssen.

Buch: „Philosophie des Fastens“, 2020 

Dieser Artikel ist im Magazin WEGE erschienen.