Wären wir nur Sisyphos

Jeder kennt Sisyphos-Arbeiten – unangenehme Verrichtungen, die nie zu enden scheinen. Aber vielleicht sollten wir uns den antiken Helden noch einmal genauer anschauen und von ihm lernen. Denn Sisyphos kannte noch Ruhe und Stille (2014)

Sisyphos ist jener antike Held, der von den Göttern dazu verdammt wurde, einen Stein einen Berg hinaufzuwälzen. Oben angekommen, setzt sich der Stein in Bewegung und rollt den ganzen Berg wieder hinunter. Die Arbeit beginnt von neuem. Wir sprechen heute auch gerne von einer Sisyphos-Arbeit, wenn man eine immer wiederkehrende Tätigkeit ausführt, die nie an ein endgültiges Ziel und damit in den Zustand der Erlösung zu kommen scheint. Sisyphos-Arbeiten wirken sinnlos und betrüblich auf den Menschen. Unsere Felsbrocken lauern auch überall in unserem Leben: waschen, kochen, reinigen. Nichts hat Bestand. Kaum erledigt, muss es schon wieder von neuem angegangen werden.

Aber was passiert denn tatsächlich, wenn Sisyphos am Berg oben angekommen ist und der Stein hinabrollt? Davon erzählt die Legende nichts, aber soviel ist klar, dass der arme Kerl hinunter steigen muss, um den Fels wieder aufzunehmen. Er schreitet also bedächtig hinab, schaut auf die Wiesen und Felder am Wegrand, stimmt ein Liedchen an. Er geht zu seiner Arbeit, hat aber im Moment keine! Jetzt hat er Zeit und keine Fracht zu schleppen. Die Zeit des Schleppens kommt wieder, doch jetzt ist die andere Zeit. Jene, wo Sisyphos sich auf die Arbeit vorbereitet und zu ihr hin muss. Er bleibt kurz auf ein Glas Wein in einer Gastwirtschaft sitzen. Er genießt die Ruhe im Schatten der Bäume. Er denkt nach. Er sieht in die Ferne und ins Tal. Dort liegt der Stein. Ja, der Stein. Er wartet auf ihn und Sisyphos kommt auch. Er weiß, er muss hinab. Und er geht zu seinem Stein, doch er geht in Ruhe und Gemächlichkeit. Die Legende erzählt nichts davon, dass Sisyphos jemals talwärts gerannt oder gehetzt wäre. Wozu auch? „In diesen Augenblicken, in denen er den Gipfel verlässt, (…), ist er seinem Schicksal überlegen“, schreibt Albert Camus, „Er ist stärker als sein Fels.“

Sisyphos scheint uns die Sinnlosigkeit zu lehren, doch unser Blick ist einseitig. Wir beobachten Sisyphos (und unsere eigenen Sisyphos-Arbeiten) nur, während der Stein geschleppt wird. Schauen wir doch auf die andere Zeit, wo es in Stille und Freude bergab geht und man seine Kräfte sammeln kann.

Und was haben wir daraus gelernt? Wir haben Controller, die uns beobachten, wie wir den Berg hinabsteigen und die erkennen, dass wir dabei höchst ineffizient sind. Das kann doch nicht sein, dass wir einfach so gemächlich den Berg hinunter gehen. Also wird veranlasst, dass uns jedes Mal eine Fracht, die unbedingt von oben nach unten muss, mitgegeben wird. Willkommen in der Jetztzeit. Es gibt keinen sanften Abstieg und keine Erholung mehr und wir kommen heute bloß von einem Felsbrocken zum nächsten. Wir haben die antike Lehre irgendwie nicht verstanden.

Der alte Sisyphos schreitet in seiner stillen Stunde pfeifend zu seinem Felsen hinab, er blickt auf unsere Welt, in der wir Steine hinauf und Steine hinunter schleppen und er weiß, es gibt Menschen, die schlimmer von den Göttern bestraft wurden als er.