Ich will leben

Mein Vater ist am 20. Februar 2023 gestorben. „Ich will leben“, hat er in seinem Sterbebett gesagt, „aber mein Körper offenbar nicht.“ 

Oft hat er gegen Ende betont, dass er ein schönes Leben gehabt hat. 86 Jahre lang. Dass es für ihn nur bergauf gegangen ist. Materiell und ideell. Und dass er gerne gehabt hätte, dass es seinen Söhnen und Enkelkindern noch besser geht. Er hat den Konjunktiv verwendet. Er hat nicht mehr so recht daran geglaubt. Früher haben die Eltern ihren Kindern immer gesagt, sie wollen, dass es ihnen besser geht. Dieser Wunsch war von Gewissheit durchdrungen. Wenn man das den Kindern heute sagt, ist es ein Flehen.

Ich will leben, sagt auch die nächste Generation und sie kleben sich an Straßen fest. Und das passt vielen nicht. Ich will leben, sagen die Ukrainer:innen und sie wehren sich. Und das passt vielen nicht. Ich will leben, sagen Flüchtende, die nach Österreich kommen. Und das passt vielen nicht. Ich will leben, sagen Leute, die sich impfen oder nicht impfen lassen. Und es passt vielen nicht. Ich will leben, sagen diejenigen, denen das alles nicht passt. 

Ich will leben, sagt die Demokratie. Und das passt vielen nicht. Viele Leute wollen keine Demokratie mehr. Zu kompliziert. Ich würde ja gerne sagen: gut, nur zu! Dann schaut Euch das an! Aber ich werde ja mit hinein in die Autokratie gezogen. Eine Diktatur so ganz alleine oder nur zu fünft ist offenbar fad. Die Fundamentalisten meinen ja immer alle Menschen. Niemand soll sich sein Heil aussuchen. Alle sollen immer in denselben Topf springen, um dort gemeinsam gegrillt zu werden. 

Je durchdringender und lauter dieses „Ich will leben“ einzelner Menschen wird, desto gefährlicher wird es, denn die Bereitschaft steigt, um des eigenen Überlebens willen anderes Leben zu opfern. Ich will leben, aber will ich auch, dass andere leben? Dass sie anders leben wollen als ich? Könnten wir uns nicht zusammensetzen und sagen: Wir alle wollen leben. Schauen wir doch, dass wir es gemeinsam hinbekommen. JA zum Leben heißt JA zu allem Leben. 

JA war übrigens das letzte Wort meines Vaters, das er gesprochen hat. Die Familie ist um sein Sterbebett gestanden, er war schon halb in einer anderen Welt. Wir haben gelacht, geweint und gesungen. Meine Mutter hat sich zu ihm gebeugt und ihn gefragt, ob ihm das gefällt. Er hat seine Kraft zusammengenommen und laut und deutlich JA gesagt. Dann ist er wieder in die Zwischenwelt zurückgekehrt. Dieses letzte Wort der Zustimmung von ihm nehme ich mit: — JA.