Maria von Rochow hat auf der Boku Forstwirtschaft studiert, ist im im Zuge ihrer Masterbeit über Borkenkäfer ins Wildnisgebiet Dürrenstein gekommen und dort geblieben, „weil es mich nicht mehr losgelassen hat.“ Heute ist sie Rangerin im letzten Urwald Österreichs und macht dort Führungen. Veronika Lamprecht und Harald Koisser haben mit der Wildnis-Rangerin gesprochen.
Was ist denn eine Wildnis?
Alles, wo sich der Mensch aus der Nutzung zurückzieht. Wo der Mensch die Nutzung aufgibt oder aber ein Gebiet, das der Mensch nie genutzt hat. Es könnte tatsächlich jedes Industriegebiet Wildnis werden, wenn wir von heute auf morgen sagen, wir lassen das unberührt. Und ich wette, in 500 Jahren wird das Industriegebiet niemand mehr erkennen, wahrscheinlich würde nur ein Bodenprofil Aufschluss darüber geben, dass das mal eine geteerte Fläche war. Dann wäre genau so etwas Wildnis.
Warum ist Wildnis wichtig für uns?
Weil es uns Menschen gut tut. Der Begriff ‚erden‘ wird immer so schnell esoterisch missverstanden, aber es geht um das Erden, um die Erde. Es bringt uns auf den Boden der Tatsachen, wenn wir uns mit Wildnis konfrontieren. Weil wir merken, dass wir nicht die Krone der Schöpfung sind. Dass wir Teil der Natur sind und nicht ihre Beherrscher. Dass wir Teil der Natur sind, ist etwas, das wir wirklich vergessen haben oder kaum mehr bemerken. Die wilde Natur lässt uns das wieder spüren. Das ist sozusagen eine Begegnung mit uns selbst, in einem guten Kontext.
Das klingt schön. Es rückt die Position des Menschen zurecht.
Man wird klein in Anbetracht der Naturgewalten. Und dieses Kleinsein ist für viele hart und schwierig und etwas Unangenehmes. Aber wenn man das mal überwunden hat, dann ist das unfassbar gut und man kann sich zurücklehnen und sagen „Ich bin nur ein kleiner Bestandteil eines riesigen komplexen Systems.“ Und das hält einen doch irgendwie! Das finde ich viel feiner als anzunehmen, ich wäre in einem komplexen System der Oberste, ich bin für alles verantwortlich, ich bin der Macher an der Spitze. Mit dem Gedanken fühl ich mich persönlich nicht wohl.
Die Menschen haben auch Angst vor der Natur. Darum haben sie vor 10.000 Jahren begonnen, die Natur zu gestalten
Ja, man sagt immer, mit der Neolithischen Revolution sind aus Jägern und Sammlern Ackerbauern und Viehzüchter geworden und da ist es losgegangen, dass man Tierzucht betrieben hat und dass man großflächig eingegriffen hat. Ich arbeite im Wildnisgebiet und bin nicht der Meinung, dass jetzt alles Wildnis werden soll und wir wieder zurück auf die Bäume sollen. Natürlich müssen wir unsere Natur nutzen, wir leben von der Natur. Es ist nur die Frage, WIE wir sie nutzen. Aber du wolltest auf einen anderen Punkt hinaus.
Ich habe von der Angst gesprochen.
Ja, genau. Das ist eine vollkommen verständliche Angst. Weil der Wald war bedrohlich. Er war übermächtig, undurchdringlich. Europa war komplett bewaldet, mit riesigen unzugänglichen Bereichen. Da hat es wilde Tiere gegeben, da hat es Räuber gegeben, da war ein ständiger Kampf. Und wenn man überleben wollte, hat man Landwirtschaft betreiben und ständig den Wald zurückdrängen müssen. Der hat sich auch ständig wieder alles geholt, was man nicht bearbeitet hat. Diese Flächen hat er sich alle wieder zurückgeholt. Das können wir uns heute gar nicht mehr vorstellen mit unseren Harvestern und Motorsägen. Aber wenn man mit so einem Faustkeil und später mit so einer Handsäge gegen den Wald ankämpft, dann ist das eine ständige Anstrengung gewesen. Und diese Urangst vor dieser Wildnis ist in jedem von uns drinnen, denke ich. Dass die Wildnis jetzt eine Existenzgrundlage ist, dieses Umdenken, das müssen wir begreifen. Es ist höchste Zeit dafür.
Die Waldschamanen empfinden sich als Teil der Natur, da habe ich von keiner Angst gehört, sondern so einen tiefen Respekt. Und die haben offenbar Möglichkeiten, mit diesen Gewalten umzugehen. Also ich kenn das auch, dass es so einen Teil in mir gibt, der sich in der Wildnis zu Hause fühlt.
Ich glaube, dass das jeder spüren kann. Aber wer hat denn die Chance? Wer kann denn sowas machen? Es ist total paradox eigentlich. Man hat 99,9% der Flächen wirklich zerstört, irreparabel verändert und jetzt – Ihr könnt euch das nicht vorstellen, was da für ein Run auf die letzten Urwaldreste ist. Jeder will da rein, unbedingt! Es ist verständlich, aber es ist so absurd, dass man den Wert von etwas erst erkennt, wenn man es eigentlich zerstört hat. Dieser Urwald hier beeindruckt die Leute. Wenn die Leute herkommen, die betreten den Urwald so wie die Menschen vor einigen hundert Jahren den Stephandsdom betreten haben.
Wie einen Tempel.
Wie einen Tempel, wie eine Kathedrale, mit einer Ehrfurcht, es ist irgendwie verrückt.
Es ist gut!
Es ist total gut! Es ist höchste Zeit! Es gab vor vielen Jahren eine Exkursion in den Rothwald von einem Waldbauprofessor an der Boku, der hat diese Exkursion tatsächlich als Negativbeispiel gebracht: „So sieht es aus, wenn die ordnende Hand des Forstmannes nicht eingreift. Überall vermodert alles.“ Das war damals die Meinung eines Boku-Professors, aber das ist zum Glück „ewig“ her.
Da steckt die ganz Hybris des Menschen drinnen: Wir gestalten die Welt!
Ja, es gab ja auch Zeiten, da hat der Mensch geglaubt, grenzenlos geglaubt, dass die Technik die Natur beherrscht. Mittlerweile gibt es ein Umdenken.
Ich habe das sehr schön gefunden, als du davon gesprochen hast, dass diese Wildnis eine Art Referenz darstellt, die uns daran erinnert, was Natur überhaupt in ihrer Essenz ist.
Wenn ich jetzt meine Großmutter frage, wie eine Wiese aussieht, dann beschreibt sie mir die Gräser, die verschiedenen Grün, die Blumen, dass es bunt ist, dass es voller Schmetterlinge und Insekten ist. Das ist ihre Wiese von damals. Wenn man heute unsere Kinder fragt, wie sieht eine Wiese aus? – Grün! Und wenn man Glück hat, malen sie noch ein paar gelbe Punkte drinnen, das ist dann der Löwenzahn oder der Hahnenfuß oder das Kreuzkraut oder diese paar wenigen Pflanzen, die mit unserer Bewirtschaftung von Wiesen zurechtkommen, die da noch blühen. Und das war’s dann! Für das Kind ist das der natürliche Zustand! Genauso wie für die Großmutter die bunte Wiese der Vielfalt der natürliche Zustand war. Und das ist eine Verschiebung, die man überhaupt erst mal wahrnehmen muss! Und man kann sie nur wahrnehmen, wenn man eine Referenz hat von dem, was wirklich Natur ist. Deswegen sind diese Referenzflächen wichtig! Damit wir da diesen Maßstab nicht verlieren. Was in diesem Wildnisgebiet für viele Besucher so beeindruckend ist, ist ein Bach, der voller Holz liegt. Das kennen wir so nicht. Aber das ist ein Bach in natürlichem Zustand. Ein Bach mit viel Holz drinnen – das ist ein Bach.
Der Wert der Wildnis – ist der rein psychologisch zu verstehen, oder hat das auch mit unserer Existenz zu tun?
Auf jeden Fall! Wir haben jetzt bislang über die Psychologie gesprochen, warum uns selber die Wildnis so wichtig ist. De facto ist es total essentiell, dass wir jetzt die letzten Gebiete schützen. Es geht um die Evolution. Das ist etwas Geniales. Wir behindern sie nur dauernd durch unser Bestimmen, wer leben darf und wer nicht. In diesem Wildnisgebiet entscheidet nicht der Förster, welcher Baum stehen bleibt und welcher nicht, sondern nur die Natur. Ich versuche das mit dem Baum zu erklären. Als Forstwirt steht man bei der Durchforstung vor der Frage: welchen Baum fördere ich, welcher Baum ist mein „Z-Baum“ – also der Zukunftsbaum? Welchen will ich am Ende ernten und welcher ist der Bedränger, der den Zukunftsbaum bedrängt?
Wir selektieren also nach Nützlichkeit, so wie wir Menschen uns das vorstellen.
Und da hat man keine andere Möglichkeit, als rein optische Maßstäbe. Man sagt: der Baum ist astfrei, gerade, unverletzt, schöne große Krone, der ist mein Zukunftsbaum. Der astige „Hundling“ daneben, der bringt mir kein Geld, das ist nicht einmal richtiges Brennholz, der kommt weg. Und so formt man diese Landschaft, so bewirtschaftet man den Wald, so bestimmt man eigentlich über alles. Aber was der Förster nicht machen kann, was wir nicht können, ist in das Genom hineinzuschauen. Wir wissen nicht, welcher Baum für die Zukunft besser gerüstet ist. Welcher für die geänderten Umweltbedingungen besser trotzen kann, welcher vielleicht den Klimawandel wegsteckt, wir wissen es einfach nicht. Und das ist das Fatale daran, dass wir überall mitmischen, rumpfuschen, deswegen brauchen wir solche Flächen, wo die Natur entscheidet und die macht das nach anderen Kriterien.
Das ist also der andere Wert der Wildnis – ein Labor für Lebensfähigkeit
Genau! Das Wildnisgebiet ist für künftige Generationen als Genpool irrsinnig wichtig! Da zeigen sich vielleicht die resilienten Arten der Zukunft. Oder Individuen, die sich da vermehren werden, wo andere wegeliminiert wurden. Das Gleiche bei Krankheiten. Zum Beispiel das Eschentriebsterben. Der Erreger ist ein Pilz, das ‚falsche weiße Stengelbecherchen‘, und die hiesigen heimischen Eschen sind diesem Pilz schutzlos ausgeliefert. Und man sieht überall nur noch kranke Eschen stehen. Sehr viele kränkeln und die meisten sterben ab. Die Esche hat also ihre waldbauliche Bedeutung komplett verloren. Das war früher eine wichtige Baumart, ein ganz tolles Holz, das ist an manchen Standorten einfach die Baumart und das ist einfach vorbei, die Zeit der Esche. Eben wegen dieser Erkrankung.
Darum werden ja Eschen überall rausgeschnitten.
Wenn du die aber überall wegnimmst, dann hat die Esche nirgendwo die Chance, sich zu wehren. Es gibt immer einzelne Individuen, die resistenter zu sein scheinen, oder gar nicht befallen sind. Und wenn man alles wegschneidet, nimmt man der Baumart jede Chance. Hier herinnen schneidet keiner eine kranke Esche um. Das Eschentriebsterben ist hier genauso, die Eschen erkranken hier auch, aber einige bleiben eben. Und einige erholen sich. Und die können reproduzieren, Samen bilden und die nächste Generation von resistenteren Eschen begründen, und so kann die Esche die Krankheit überstehen. Das ist Evolution. Und das ist nur möglich, wenn wir es geschehen lassen.
Wenn du jetzt vom Lebensmittelministerium als Beraterin berufen wirst und gebeten wirst, ein zwei Maßnahmen vorzuschlagen, um uns Menschen wieder mehr in Verbindung mit dieser essentiellen Wildnis-Kraft zu bringen. Was würdest du vorschlagen?
Also, da muss man bei sich selber mal anfangen und bei sich Wildnis zulassen. Das ist etwas, was man erstmal in seinem eigenen Garten beginnen kann. Die Leute schreien oft: man muss doch in Thailand den Tiger retten und den Urwald schützen, aber im eigenen Garten steht die Thujenhecke und der Rasenroboter fährt rum. Das ist eine gewisse Diskrepanz. Man könnte ein kleines Wildnisgebiet zuhause … da ist er, der Steinadler! Über den Buchen, jetzt ist er doch noch da. … Also jedes Wildnisgebiet ist – je größer, desto besser – sehr wertvoll. Aber man darf nicht vergessen, dass auch kleine Trittsteine für die Natur unglaublich wichtig sind. Das kann jeder mit seinem eigenen Garten machen. Man kann in seinem eigenen Garten sagen: ich lasse einen Teil machen, wie er will. Ich lasse es Wildnis werden. Solche Trittsteine wären unfassbar wichtig für Insekten, weil man da ganz viele Blühpflanzen hätte. Es sind Trittsteine der Artenvielfalt. Und natürlich hat alles viel mit dem Lebensstil zu tun. Damit lässt sich kein Geld verdienen, deswegen ist das verpönt. Aber einfach mal ein bisschen sparsamer sein. Ein bisschen die eigenen Bedürfnisse zurücknehmen, den eigenen unfassbar bescheuerten Konsumrausch. Ich mein, wir brauchen gar nicht so viel. Und ein einfaches Leben zu führen, ist oft das Schönere. Wir können sparsamer sein, ohne deswegen auf tolle Lebensqualität verzichten zu müssen.
Viele Leute kommen gerade darauf, dass sie Lebensqualität gewinnen, indem sie sich auf weniger und Essentielles besinnen.
Ja, das trau ich mir jetzt echt kaum sagen, denn es wird oft falsch interpretiert, aber es gab einige sehr gute Effekte von Corona, zum Beispiel, dass plötzlich die Luft sauber war. Und Effekte,auf die menschliche Psyche, durch den erzwungenen Stillstand, diedurchaus positiv waren. Natürlich haben Leute ihre Existezgrundlage verloren, die haben wirklich Probleme gehabt. Das mein ich jetzt nicht. Aber diejenigen, die einfach mal gezwungen waren, einen Gang runter zu schalten. Mir haben so viele Leute gesagt: boah, das war im letzten Moment, das war so gut, hat mir so gutgetan. Ich hab einfach gemerkt, das war zu viel, was ich gemacht hab. Ich hab’s eigentlich gar nicht mehr gepackt. Und dann haben auch viele Leute gesagt, sie gehen normal immer shoppen, aber eigentlich hat ihnen das jetzt gar nicht gefehlt. Sie haben gar nichts gebraucht oder vermisst. Das ist der positive Effekt an dem Ganzen. Und ich hoffe, dass das eine anhaltende Wirkung hat.
Das war deswegen gut, weil die Leute eine Erfahrung gemacht haben. Mit dem Kopf wissen wir ja eh so vieles schon seit langem, aber die Leute haben plötzlich die Erfahrung gemacht, wie der Himmel ohne Kondensstreifen aussieht.
Ja, und die Sterne! Das war ja so schön! Und da ist erzählt worden von plötzlich sauberen Stränden. In Venedig zum Beispiel hat man wieder auf den Grund der Lagune sehen können. Der Planet hat mal eine kurze Verschnaufpause bekommen. Wenn wir jetzt genauso deppert weitertun wie vorher, ist das natürlich nichts wert.