WeltUNordnung II – Vernunft braucht Liebe
  • Warum sich Menschen von der Demokratie abwenden. Und wie sie zurückfinden
  • Die Leute wollen Werte, nicht Argumente
  • Denken ist anstrengend und wir lassen es, wenn wir auch anders zu Entscheidungen kommen können
  • Vernunft braucht Liebe. Sonst bleibt jede Entscheidung kalt und halb

Als ich Politikwissenschaft studiert habe, lernte ich den Glauben an den „Zwang des besseren Arguments“, eine Idee des Soziologen Jürgen Habermas. Das bessere Argument würde sich im herrschaftsfreien Diskurs durchsetzen. Dieser Illusion bin ich jetzt in fortgeschrittenem Alter beraubt. „Die Menschen finden mehr Gefallen an Fiktionen als an Wahrheiten“, schreibt der chinesische (!) Philosoph Zhao Tingyang im philosophie magazin Sonderausgabe 23/2022, „daher erweisen sich auf dem Markt der Meinungen Vorurteile, Scherze, Ideologien, Gerüchte und Fälschungen als besonders attraktiv.“

Die Leute suchen Werte, nicht Argumente

Statt des besseren Arguments geht es um den besseren Wert (eine Ideologie, welcher Art auch immer). Wer eine Ideologie gefunden hat, verbeißt sich darin und kämpft verbissen um ihre Durchsetzung, isoliert gegen jegliches Argument. Dass es überhaupt möglich geworden ist, sich jeglichem rationalen Diskurs zu entziehen, ist eine Folge von Social Media und korrumpierbaren Medien/machern.

Es entstehen große Blasen für jegliche Art von Irrwitz, die ausreichend groß sind, dass sie als Heimat erkannt werden können. Egal welcher ideologischen Gruppe auf Telegramm oder Facebook oder sonst wo sich jemand anschließt, er/sie findet sich in einem Heer Gleichgesinnter und weiß damit, dass er/sie recht hat. Es entstehen „Fiktionen vorherrschender Meinungen“ (Tingyang). Die Meinungen wirken in der jeweiligen Bubble so, als wären sie eine Mehrheit.

Das bedeutet, dass Menschen, sobald sie eine ausreichend große Bubble bilden können, sich von demokratischen Prozessen auch abwenden können. Sie wollen dann lieber recht haben, anstatt an das größere Ganze zu denken und in Frieden und im Gemeinwohl zu leben. Es reicht ihnen das gemeine Wohl der eigenen Blase. Menschen wollen sich Argumenten nicht stellen, wenn sie nicht müssen. Und sie müssen nicht, wenn sie sich eines großen Umfelds Gleichgesinnter sicher sein können. Das wird zu einer selbsterfüllenden Prophezeiung. Dadurch, dass wir so viele sind, müssen wir doch recht haben. Bessere Argumente braucht es dann oft nicht.

Das alles wird demokratisch erlaubt. Wäre es nicht so, gäbe es auch eine große Entrüstung. Damit die Demokratie weiterhin bestehen kann, glaubt sie, große und größer werdende Bubbles an Wahnvorstellungen zulassen zu müssen. Sie hält argumentativ nicht dagegen. Das bringt die Demokratie in Existenznot. Zugleich bedienen sich demokratisch gewählte PolitikerInnen dieses Umstands und erzeugen selbst Wahnvorstellungen zum Machterhalt.

Demokratie ist an sich ohne Wert

Demokratie an sich ist ja auch nicht wertvoll. Sie ist bloß ein Tool, mit dem das Leben für alle lebenswert sein soll. Sie soll gute Entscheidungen für alle hervorbringen. Das ist unter normalen demokratischen Umständen ohnehin schon schwierig genug, weil es immer eine Diktatur der Mehrheit gibt. 51 Prozent stimmen für etwas und damit haben 49 Prozent das Nachsehen. Wirklich glücklich und demokratisch ist das nicht. Die im Trend liegende Demokratie des Wahns verschärft das Symptom, denn Menschen, die sich dem Argument verweigern, haben auch kein Interesse, andere an Bord eines gemeinsamen Schiffes zu lassen. Wir erleben eine Auflösung des demokratischen Grundkonsens und die Ausprägung vieler Blasen, in denen Leute die Sicherheit eines Wertesystems suchen. Dass dort auch Scharlatane fuhrwerken, versteht sich, fällt aber derzeit nicht auf, weil die Scharlatane schon an der Spitze der Demokratien angekommen sind.

Fluch der Aufklärung

Die Idee des „besseren Arguments“ ist ein Erbe der Aufklärung, jenes Kulturbruchs in Europa, der im 18. Jahrhunderts die Vernunft inthronisieren wollte. „Wage es, Dich deines eigenen Verstandes zu bedienen“, schrieb Immanuel Kant ins Stammbuch der Europäer. Das mag ehrenwert und nach dem katholischen Mittelalter auch reinigend gewesen sein, und doch lastet es als Fluch über der Gesellschaft, weil zugleich alles, was nicht der Vernunft zugerechnet wird – Liebe, Herz, Gefühl, … – als minderwertig angesehen wird. Das rationale Denken soll den Fortschritt bringen. Nur der Geist findet Wahrheit, alles andere zählt seither nicht.

Wir haben heute eine kulturelle Übereinkunft, dass wir alle vernünftig sind. Die Lebenspraxis zeigt, dass das absurd ist. Wer würde es zu behaupten wagen, dass er/sie auf Basis vernünftiger Entscheidungen sein Leben ausrichtet? Weder können wir das, noch wollen wir das. Denken ist ein schmerzhafter Prozess, den wir uns gerne ersparen, wenn wir auch anders zu Entscheidungen kommen können. Wir sind nicht nur Geist, sondern auch Herz und Seele. Zhao Tinyang merkt daher an, dass früher vielleicht „Wissen“ ein Werkzeug der Mächtigen war, doch jetzt ist es „Service“. Die Macht lässt sich heute besser durch das Servicieren der Menschen erhalten statt durch besseres Wissen. Politik, Medien und ganz besonders Social Media bedienen Gefühle, Influencer geben lebenspraktische Tipps. Wir werden betreut anstatt informiert. Weil wir soziale Wesen sind und das Miteinander brauchen.

Vernunft braucht Liebe

Die Vernunft braucht die Liebe. Vernunft alleine ist wertlos. „Im politischen, ethischen und religiösen Denken zählt das Herz mehr als der Verstand.“ (Tingyang). Solange wir das Herz abspalten und nicht mitreden lassen, kommen wir zu keinen guten Entscheidungen. Solange wir die Liebe abspalten, bekommen wir nur Liebes-Fakes. Wir wissen, dass es Fakes sind und nicht wirkliche Liebeszuwendungen, aber da die Liebe ja öffentlich nicht vorkommen darf, nehmen wir den Müll halt trotzdem.

Wir müssen die Liebe zu einem ernst gemeinten Menschheitsprojekt machen. Jetzt. Dann kommen wir von selbst in eine Demokratie, die ihren Namen auch verdient.

Zum Abschluss hier eine Idee aus dem 3000 Jahre alten „Buch des politischen Kanons“ aus der Zhou-Dynastie, China[1]. Bei Entscheidungen sollte der König drei Stimmen haben, die Riege der Minister eine Stimme, das Volk eine Stimme. Und dann gab es noch zwei Stimmen des Himmels. Die Deutung der Himmelszeichen war damals äußerst vertrauenswürdig. Wie wär’s, wenn wir die Entscheidungsfindungen heute ebenfalls anders gewichten und sowohl einen wissenschaftliche Rat als auch die Liebe mitstimmen lassen? Die Stimme der Liebe kann aus einer Menschengruppe erklingen, die nach den Prinzipien der Bürgerbeteiligungsverfahren zusammengestellt wird. Ihr Aufgabe ist es, Maßnahmen in Hinblick auf Liebestauglichkeit zu prüfen. Dient sie den nächsten Generationen, ist sie maßvoll und fürsorglich Mensch und Natur gegenüber, dient sie dem Gemeinwohl?

Wenn solches aus der jetzigen WeltUNordnung hervorginge, dann wären wir Menschen durchaus überlebensfähig.

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[1] gefunden im Artikel von Zhao Tingyang, philosophie magazin Sonderausgabe für 2023