Welt(UN)ordnung

Die Demokratie wird von Innen angeschossen. Die Klimakatastrophe ist kaum mehr aufzuhalten. Und doch: wir können wählen!

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Wir sind in einer neuen WeltUNordnung. Das politische und soziale Gefüge der westlichen Welt ist aus der Gleichförmigkeit der letzten Jahrzehnte gefallen. Gut einerseits, weil das Wachstums- und Ausbeutungsparadigma damit fallen könnte. Gefährlich, weil in der Unordnung alles umgerührt wird und Kräfte ans Licht kommen, die man dort besser nicht sehen wollte.

Demokratie in Unordnung

Donald Trump hat im Herbst 2022 gefordert, „alle Regeln abzuschaffen“, was nichts anderes heißt als die Verfassung außer Kraft zu setzen. Er war Präsident der USA und würde es gerne wieder werden. Von Seiten der Republikaner gibt es keinen nennenswerten Widerspruch gegen Trumps Äußerung. Dieses Ereignis steht stellvertretend für die starken Tendenzen in Europa und Amerika, die Demokratie von Innen kaputt zu machen.

Der Demokratie-Wert[1] der USA ist durch Trumps Weigerung, beim Amtsenthebungsverfahren zu kooperieren von +10 auf +7 und dann durch den von ihm mitzuverantwortenden Sturm auf das Kapitol auf beschämende +5 abgestürzt (Polity Index vom Center for Systematic Peace). Davon hat sich das Land bis heute nicht erholt. Amerika war immer stolz darauf, die am längsten bestehende Demokratie der Welt zu sein. Damit ist es jetzt vorbei. Die Ehre wird jetzt der Schweiz zuteil.[2] Österreich wurde ebenfalls im Demokratieranking herabgestuft und ist nur noch eine Handbreit davon entfernt, aus der Riege der „full democracies“ hinauszufallen (gemessen nach dem Beurteilungssystem von The Economist). Zugleich hat Österreich im Ranking der Pressefreiheit sagenhafte 14 Plätze eingebüßt.

Die letzte Episode der versuchten Demokratievernichtung kommt direkt aus Brüssel durch einen großen Korruptionsskandal.

(Anm.: eine weiter gehende Analyse zur Abwendung von der Demokratie und wie wir zu ihr zurückfinden, findet sich im Text „WeltUNordnung II„)

Klima in Unordnung

Jedes Kind weiß, dass das Klima außer Kontrolle ist. Die Wahrscheinlichkeit von +3 Grad Durchschnittstemperatur ist äußerst realistisch geworden. Man mag drei Grad mit einem Schulterzucken abtun. Klingt ja recht heimelig. Die Dimension der Zahl erschließt sich erst, wenn man weiß, wie kalt es in der letzten Eiszeit war. Vor rund 20.000 Jahren hatte es eine Durchschnittstemperatur von nur 6,1 Grad weniger als heute. Da waren aber weite Teile der Nordhalbkugel von Gletschern bedeckt. Drei Grad plus werden daher enorme Auswirkungen auf das Leben aller Menschen am ganzen Erdball haben.

Die eigentliche UNordnung entsteht durch die Art und Weise, wie die Industrienationen, also die Verursacher der Misere, die Diskussion führen. Sie schleppen sich von Konferenz zu Konferenz, ohne etwas zu bewirken. Österreich ist dabei, seine Klimaziele weit zu verfehlen. Es werden nach wie vor kurzfristige Interessen gegenüber der langfristigen Überlebensfähigkeit bevorzugt.

Im Raucherkammerl

Wir befinden uns in einem großen Raum mit vielen Menschen, die alle gut Platz darin haben. Leider ist der Raum ziemlich verraucht. Er ist ein stickiges Raucherkammerl. Die Hälfte der Leute im Raum raucht nämlich seit Jahrzehnten ununterbrochen. Zigarren, Pfeife, Zigaretten. Es sind süchtige Kettenraucher. Die ersten Lungenkrebsfälle treten auf, allerdings eher bei denen, die gar nicht rauchen. Das liegt an den Ventilatoren, welche die Raucher aufgestellt haben, um die schlechte Luft auf die Seite der Nichtraucher blasen. Diejenigen, die rauchen und rauchen, halten Konferenzen ab, wo sie feststellen, dass es schon gut wäre, weniger zu rauchen. Aber die Sucht! Was soll man machen? Die Luft ist zum Schneiden, man sieht schon fast nichts mehr. Wenn die Nichtraucher aufbegehren und dorthin wollen, wo die Ventilatoren stehen, dann heißt es „das Boot ist voll“. Sie wären Kriminelle und Asylanten.

„Wir müssen die Emissionen senken“, hustet jemand und steckt sich eine nächste Zigarette an. Jemand berechnet den Sauerstoffgehalt in der rauchgeschwängerten Luft. Es wird eng, heißt es in mehreren Studien. „Wir müssen zusammenhalten“, sagt ein Kettenraucher.

Wenn die Süchtigen „wir“ sagen und „zusammenhalten“, meinen sie immer alle, auch jene, die gar nicht rauchen. Wenn sie sagen „wir haben die Welt verpestet“, dann klingt das weise und erkenntnisreich. Aber sie meinen zur eigenen Erleichterung auch jene, welche die Welt definitiv nicht verpestet haben. Damit verdünnen sie ihre Verantwortung.

Schließlich brauchen alle Geld, um die gesundheitlichen Folgen des Desasters abzuwehren. Diejenigen, die nie geraucht haben, nehmen sich Kredite bei denjenigen, die rauchen, damit sie ihre Therapien bezahlen können. Dann sind sie bei den Rauchern verschuldet. Das ist die klimapolitische Lage der Welt.

Der Historiker David Van Reybrouck merkt an: „Die armen Länder mögen bei uns finanziell verschuldet sein, wir aber sind bei ihnen ökologisch verschuldet.“ Ich habe geschrieben, dass jedes Kind weiß. Vielleicht sind es NUR die Kinder (in uns), die wissen. Greta Thunberg (mittlerweile auch schon 20): „Wir sind alle im selben Sturm. Aber wir sitzen nicht im selben Boot.“

So also sieht es aus zum Jahreswechsel 2022. Können wir der WeltUNordnung etwas Positives abgewinnen?

Es ist sittlich richtig, das Positive anzunehmen (Carl Popper)

  • Die Demokratie ist angeschossen, aber nicht tot. Teile der Rechtsstaatlichkeit funktionieren noch. Es liegt an uns allen. Wir können wählen. All die Rechtsverdreher und Demokratievernichter sind von uns gewählt worden. Jede/r einzelne von uns ist in der Verantwortung.
  • Jedes Verhängnis hat eine Lücke, wie Philosoph und Filmemacher Alexander Kluge schreibt, auf diese Lücke müsse sich die Öffentlichkeit vorbereiten. Es ist der Moment, wo beide Gegner zur gleichen Zeit schwach und friedensbereit sind (Anm.: Kluge bezieht sich auf Russland/Ukraine, aber das ist auch weiter gefasst zu verstehen. Es gibt immer diese Zeitfenster der Hoffnung).
  • Es ist sehr wahrscheinlich, dass die Technologie unser einziger Schutz vor Katastrophen sein wird, zumal uns kaum noch Zeit bleibt (Lauren Holt, Soziobiologin an der University of Cambridge). Auch wenn mir das Argument ethisch zuwider ist, könnte es doch praktisch wahr sein. Die Erfindungsgabe des Menschen könnte das Schlimmste mit Hilfe jener Technik, die alles verursacht hat, kurzfristig lindern und aufschieben. Wir erhalten zeitlichen Spielraum. Es ist ja nicht die Technik, die etwas verursacht, sondern der Mensch, der sie mit einer bestimmten Absicht anwendet.
  • Die Sonne ist die höchste Energie unseres Sonnensystems. Zumindest noch eine Milliarde Jahre lang. Wenn wir lernen, ihre Energie anzuwenden, „könnte das die Herrschaftsverhältnisse des Industriezeitalters beenden“ (Oxana Timofeeva, Philosophin in St. Petersburg). Eine Änderung der Energiebereitstellung hat das Potential, Gesellschaftssysteme zu ändern.
  • Wenn in aktuellen Umfragen (Winter 2022) die FPÖ in Österreich das politische Beliebtheitsranking anführt, könnte man es Geschichtsvergesslichkeit nennen. Die Menschen lernen aus der Geschichte nicht und sind dadurch verflucht, sie zu wiederholen, wie der chilenische Biologe Humberto Manturana anmerkte. Aber zugleich herrsche auch eine „Vergesslichkeit gegenüber den Früchten der Bemühungen“ lt. der Schriftstellerin Rebecca Solnit. Wir vergessen einfach alles. Den Scheiß, den uns bestimmte Parteien/Menschen eingebrockt haben, aber auch das Gute, das uns andere eingebrockt haben. Es ist schon so viel Gutes da.
  • Wir müssen jetzt die Liebe zu einem ernst gemeinten Menschheitsprojekt machen. Liebe ist das große Geschenk und sie will ins ganze Leben (somit auch in Politik und Wirtschaft!) eingeladen werden!

Na dann. Die Lage ist hoffnungslos, aber nicht ernst. (Karl Kraus)

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[1] Der Begriff Demokratiemessung bezeichnet in der Politikwissenschaft den Versuch, die Länder der Erde in verschiedene Grade, also nach Demokratie gestaffelte Kategorien einzuteilen. Sie versucht dabei zu einer Beurteilung der Demokratiequalität eines Landes zu gelangen. Die Fragestellung, was Demokratie ist und wie sich der Grad der Demokratie im Sinne der Demokratiequalität eines Landes messen lässt, ist nicht unmittelbar zu beantworten. Demokratie ist wie Intelligenz, Gesundheit oder Kultur ein Gedanken-Konstrukt, das nicht direkt messbar („nicht sichtbar“) ist. Durch Operationalisierung seiner Merkmale ist eine indirekte Messung des Konstrukts möglich. (Wikipedia 20.12.2022)

[2] Die Informationen zu Amerikas Demokratie stammen aus dem Buch „Bürgerkriege“ von Barbara Walter, Professorin für internationale Angelegenheiten an der University of California, das im Jahr 2023 erscheinen wird

Dez. 2022