Ich bin ein Gärtner des Lebens

Ein Gespräch mit Matthias Strolz über Politik, die Übergabe der Partei und die Liebe.

Foto © story.one/A. Hofer, Interview: Harald Koisser, im Frühjahr 2021


 

Harald Koisser: Ich bin auf etwas draufgekommen. Genau heute (Anm.: Frühlingsbeginn 2021) vor genau zehn Jahren habe ich dich das letzte Mal interviewt. (>> siehe Magazin WIRKS 2011, Printausgabe, hier als PDF)

Matthias Strolz: Ja, ich kann mich noch daran erinnern, das war unmittelbar vor der Parteigründung.

Jetzt stelle ich dir genau dieselbe Frage, die ich dir damals beim Interview als erstes gestellt habe. Die lautete nämlich: „Ich möchte eine politische Partei gründen. Was muss ich dabei beachten?“ Also, ich wiederhole die Frage: was muss ich dabei beachten? Heute 2021?

Sehr viel. Weil es eine komplexe Angelegenheit ist. Es hat seit 1975 weit über 1.000 Parteigründungen gegeben und nicht allzu viele davon sind bekannt. Die Hürden sind sehr groß, die Herausforderungen auch, und es bedarf einer wirklich tiefen inhaltlichen Bewegtheit im Sinne einer Vision. Zudem braucht es viel Geschick und auch Professionalität für den strukturellen Aufbau sowie für die Schaffung und leidenschaftliche Pflege einer positiven und attraktiven Organisationskultur.

Du warst damals sicher jemand, der eine Vision gehabt hat. Aber trifft denn das auf alle jetzt handelnden Akteure zu?

 Wir haben in den ersten vier Jahren weit über 2 Mio. Stunden nur in wertebasierte Programmentwicklung gesteckt. Ehrenamtliche Stunden. Es ging um Kernwerte, Vision, Mission und zentrale inhaltliche Anliegen. Die jetzt handelnden Spitzenakteur*innen waren damals auch dabei. Von daher weiß ich, dass die schon auch dafür brennen.

Redest du jetzt nur von den NEOS oder von der kompletten politischen Landschaft?

 Ich rede von den NEOS. Doch ich sehe auch mit Blick auf andere Parteien, dass die allermeisten Politiker*innen – gerade in den Anfangsjahren ihres Engagements – von einer inhaltlichen Sendung und Bewegtheit getragen werden. Natürlich ist es für viele auch eine Karriereoption. Aber für mindestens so viele steht da zu Beginn auch ein Feuer für eine Idee, für einen Beitrag fürs große Ganze. Natürlich, in der ziemlichen brutalen Betriebsamkeit des politischen Alltags kommt dieses Feuer unter Bedrängnis. Es kann schon sein, dass es erlischt und dann der Zynismus lodert, oder das dumpfe Karrierebestreben oder die rohe Machtfixiertheit, oder andere Abgründe, die in jedem Menschen vorhanden sind.


Dumpfe Identitätspolitik & hemmungslose Lüge


Du hast mir damals im letzten Gespräch vor zehn Jahren auch gesagt, dass die Chancen für eine Parteigründung gut stehen, weil die politischen Parteien zu viel Energie darauf verschwendet haben, Macht zu erhalten und zu wenig auf die Zukunftsfähigkeit. Das hat sich ja eigentlich intensiviert.

Das hat sich intensiviert, aber in der Darbringung verändert. Wenn wir uns erinnern, Ende der Nuller-Jahre war dieser Stillstand kaum ertragbar, der über Österreich lag. Diese Lähmung durch die Große Koalition. Jetzt zehn Jahre später, mit dem verklärenden Blick der Zeitgeschichte, sehnt man sich gelegentlich fast nach dieser Zeit zurück, weil andere Phänomene Platz gegriffen haben. Hochproblematisch: Das weltweit effektivste Regierungsmodell ist derzeit die schamlose Kombination von dumpfer Identitätspolitik mit hemmungsloser Lüge, viel Geld sowie hoher Professionalität. Die Lüge wird von diesen Akteuren – und es sind überwiegend Männer – sogar als höchster Ausdruck von Professionalität verstanden. Diese Kombination sehen wir in Brasilien am Ruder, in Großbritannien, in Ungarn; sie hat die USA jahrelang dominiert und das Match dort ist noch nicht vorbei. In Österreich regiert derzeit die weltweit eleganteste Version dieser dreisten Kaltschnäuzigkeit. Das ist schon beklemmend.

Wie kommt es denn zu diesem Phänomen, das du da so elegant beschrieben hast? Ist das ein Zeichen des Umbruchs in dem wir uns befinden?

 Es ist ein problematischer Ausdruck unserer Zeit. Eine Epoche des Übergangs. Meine Hoffnung ist also, dass es sich um ein Interregnum handelt. Es möge vorbeiziehen. Das Alte ist noch nicht tot, es liegt im Sterben; das Neue ist noch nicht ganz da, noch nicht voll tragfähig. In der Zwischenzeit treiben obskurste Blüten, weil die Verunsicherung groß ist und weil vielerorts Vakuum entsteht.

Vieles ist offen. Es ist unklar, ob es in zehn Jahren noch möglich sein wird, so ein Interview in Österreich zu geben, ohne dafür abgeführt zu werden. Teile der Medien wurden schon gekauft – mit beispielsweise mehr als 1.000 Prozent Erhöhung des Inseratenvolumens im Bundeskanzleramt allein im letzten Jahr. Wir Bürger*innnen müssen uns die dreiste Manipulation sogar selbst zahlen. Auch die Angriffe auf die Justiz laufen intensiv und auf verschiedenen Ebenen. Die Spitze der „Neuen Volkspartei“ hat keine klare Vorstellung, wohin sie das Land inhaltlich führen will. Es regiert wertebefreite Beliebigkeit. Hauptsache Regieren. Alles wird dem Machtanspruch unterworfen. Dieser wird sodann hemmungslos, verlogen und hoch professionell exekutiert. Es braucht seine Zeit, bis breitere Teile der Bevölkerung dies durchschauen. Doch Lügen haben kurze Beine. Ich bin nach wie vor zuversichtlich. Wie Abraham Lincoln sagte: „Man kann alle Leute einige Zeit zum Narren halten und einige Leute die ganze Zeit – aber alle Leute die ganze Zeit zum Narren halten, das kann man nicht.“ Hoffentlich dauert die Erkenntnis nicht zu lange, sonst verlieren wir die Demokratie und Teile unserer Freiheits- und Bürgerrechte.


Die fatale Vorbildwirkung der Politik


Was gilt es zu tun?

 Wir müssen genau hinschauen, hinhören, hinspüren. Die Fassade wurde machtgeil, geltungssüchtig und elegant neu angemalt. Doch dahinter marodiert der Verfall. Das Ausrinnen der zwei großen staatstragenden Parteien, denen wir sehr viel zu verdanken haben, ist ungestoppt unterwegs. Natürlich gibt es auch in der Volkspartei viele integre Leute – Hundertschaften von Bürgermeister*innen und Mandatar*innen auf allen Ebenen. Doch sie ist aktuell in Geiselhaft einer mehr als fragwürdigen Clique. Was sollen wir unseren Kindern lehren, wenn auf höchster Ebene die Lüge zum Standardinstrument wird? Wenn auf die Frage, ob man einen Laptop besitzt, unter Wahrheitspflicht ein „Weiß ich nicht“ kommt, dann ist es für Zwölfjährige zum Greifen, dass man mit Lügen sehr weit kommt in unserer Republik. Fatale Vorbildwirkung! Das versaut unser Land. Wenn die behübschte Fassade dereinst wegbricht, werden wir eine Volkspartei erkennen, die auf Bundesebene nicht mehr staatstragend ist. Eine der zentralen Gründungshypothesen unserer neuen Bewegung war und ist, dass es einen neuen, zusätzlichen Spieler in der Mitte braucht, ansonsten wird Österreich über viele Jahre dem Rechtspopulismus ausgeliefert sein.

Aber wir haben Rechtspopulismus, ausgespielt von einer Regierungspartei.

Dass sich Teile der Christdemokraten zu hemmungslosen Rechtspopulisten wandeln, das war 2011/12 in der Analyse nicht absehbar. Das ist, wenn man so will, eine skurrile Wendung der Geschichte. Es ist zu hoffen, dass das Phänomen vorbeizieht. Auch verstärkt durch Corona. Wir kennen in der Politikwissenschaft dieses Ralley-Round-The-Flag-Syndrom. Die Menschen versammeln sich in Krisenzeiten um die regierende Klasse, um die nationale Flagge. Das wurde ja auch in Österreich massiv befeuert und inszeniert. Politologisch ist aber auch der empirische Befund bekannt, dass der Krisenregent durchschnittlich nach viereinhalb Jahren aus dem Sattel gehoben wird. Dieser Verfall des Vertrauens in die inszenierungsstrotzende Regierungsspitze ist massiv unterwegs und wenn er so weitergeht wie im letzten Jahr, dann werden es keine dreieinhalb Jahre mehr. Dann ist auch dieses Intermezzo beendet.

Wir wissen aber auch nicht, was dann nach dieser Zwischenzeit herauskommt. Im Prinzip könnte es ja auch so sein, dass sich das, was wir jetzt erleben, manifestiert und wir in eher demokratieabgewandten Systemen aufwachen.

Natürlich. In den 30er Jahren kam nach dem Autoritarismus der Christlich-Sozialen ein noch viel brutaleres Übel. Das soll uns Mahnung sein. Analytisch betrachtet, kann sich diese Regression verfestigen, so wie in Ungarn. Das habe ich Sebastian Kurz auch bei unserem Abschiedsessen im Sommer 2018 mitgeteilt, weil ich will ja nichts öffentlich ausrichten, was ich ihm nicht auch persönlich unter vier Augen sage. Erstens habe ich Respekt vor seinen Talenten und zweitens habe ich Sorge um ihn und unser Land, weil ich befürchte, dass er Passagier seiner eigenen Dynamik wird und damit das ganze Land in Geiselhaft mitnimmt.


Kurz ist Passagier der eigenen Dynamik


Die Dynamik wird auch von den Umständen gespeist.

Das Modell, das er und seine Gang aufgesetzt hat, ist ein Schönwettermodell. Das kann nicht unter Schlechtwetterbedingungen funktionieren. Unter Schlechtwetterbedingungen muss er den autoritären Regler nach oben fahren, in der Partei und im Land. Weil er hat keine gemeinsam ausverhandelten Werte und kein Programm, die als Zement fungieren. Dabei gilt dann aber das Naturgesetz: so wie innen, so auch außen. Da muss sich die Großwetterlage auch im ganzen Land autoritär verdüstern. Und wir haben zuletzt ein Schaubeispiel erlebt: ein Kanzler unter Bedrängnis exekutiert auf öffentlicher Bühne einen Spitzenbeamten aus den eigenen Reihen (Anm.: gemeint ist Impfkoordinator Clemens Martin Auer). Das ist das Hochziehen des autoritären Reglers. Eine politische Schauexekution, die zum Glück in Österreich nicht blutig abläuft, aber natürlich für diese Person biographisch einen massiven Einschnitt bedeutet. Das war eine mediale Taktik der kurzfristigen Message Control, aber noch mehr eine Botschaft zur Disziplinierung der eigenen Leute. Nebenbei euch ein Tritt der Einschüchterung in die Eingeweide eine des Gesundheitsministers, der sich zu diesem Zeitpunkt im Spital befand und den man bewusst weiter beschädigen wollte.

Wobei Auer nicht ganz glücklich agiert haben dürfte.

Ich war im November 2020 mit ihm bei „Im Zentrum“ im ORF und da habe ich gemeint, man muss zu anderen Managementansätzen finden, es bräuchte einen Corona-Minister, der sich zB um die Impfung kümmert. Damals hat dieser Spitzenbeamte gesagt: „Nana, das machen wir schon, das haben wir alles im Griff.“ – Nein, hatten sie über Monate nicht. Das war auch für Insider zu erwarten. Also ein Wechsel im Management okay. Aber man macht so eine Absetzung nicht in dieser Form auf öffentlicher Bühne. Wenn man das so macht, ist man entschlossen, eine doppelte Botschaft zu senden, vor allem an die eigenen Leute: „Ich schrecke nicht davor zurück, öffentlich zu exekutieren. Überlege dir zweimal, ob du absolut loyal und funktional für mein Machtsystem bist.“ Das ist klar autoritäres Handeln, noch in einem demokratischen Kontext.

Aber was heißt „Passagier seiner eigenen Dynamik zu werden“? Wo führt das hin?

Das Regime von Viktor Orbán ist um einige Schritte weiter. In Österreich werden Kritiker mitunter eingeschüchtert, in Ungarn werden sie bereits systematisch überwacht und mitunter auch polizeilich drangsaliert. In Österreich werden die Medien gekauft. Das ist vielleicht sogar ein bisschen verlogener als in Ungarn, dort werden sie einfach geschlossen, wenn sie nicht spuren. Auch Universitäten, wenn notwendig. Orban ist in der Dynamik seiner selbst weiter fortgeschritten. Da fehlt uns noch einiges – mitunter fünf Jahre. Orbán weiß: Entweder bin ich an der Macht, oder mit Teilen meiner Familie und meiner Freunde im Gefängnis. An dem Punkt sind wir in Österreich noch nicht. Und an den Punkt dürfen wir auch nicht kommen, weil sonst ist die Demokratie absolut am Scheideweg. Wenn der Regierungschef weiß, entweder Macht oder Gefängnis, wenn er sich in dieser Zwangslage befindet, die natürlich durch moralisch verwerfliches Verhalten selbstverschuldet ist, sind diese Regenten geneigt, Dinge zu tun, die mit Demokratie überhaupt nichts mehr zu tun haben.

Weil es im Wortsinn ums Überleben geht.

Genau, ums Überleben. Und da setzen andere Instinkte ein. Da sind die Leute dann auch im echten Wortsinne bereit, über Leichen zu gehen. An den Punkt dürfen wir nicht kommen. Wir hätten wahrscheinlich vor fünf oder zehn Jahren gesagt, an den Punkt kann Österreich nicht kommen, wir sind eine gefestigte stabile Demokratie. Ich halte es heute für möglich. Es entscheidet sich in den nächsten Jahren.


Angst – ein Teil des Menschseins


Was wir gerade flächendeckend haben, sind unterschiedliche spürbare Ängste. Ganz unterschiedliche. Und diese Angst ist gefährlich, weil Angst ein Zustand ist, in dem man nicht sehr gut nachdenken kann. Gibt es ein Mittel gegen die Angst? In der Ökonomie drückt sie sich als Unsicherheit aus. Was ist das beste Mittel dagegen? Irgendwie hast du ja auch im politischen Kontext immer wieder damit zu tun.

Ich habe in meinem vorletzten Buch „Sei Pilot*in deines Lebens“ das Thema Angst prominent mit eingearbeitet und ich bin zum Schluss gekommen: Angst ist nicht vollkommen zu beseitigen oder zu besiegen. Sie ist Teil des Menschseins, gehört zu unserer Wesenheit dazu und ist mitunter sehr wertvoll. Ohne Angst würde kein Kind überleben. Es braucht sie, um sich die Welt auch anzueignen. Und auch Erwachsene brauchen Angst. Es ist allerdings wichtig, uns die Angst bewusst zu machen, sie auch zu spüren und ihr bewusst eine Rolle zu geben. Und damit auch Einhalt. Es geht nicht darum, sie zu komplett zu beseitigen, sondern ihr ganz klar zu bedeuten: Du bist hier Türsteherin! Das Neue braucht die Krise, die Spannung und auch die Angst, um sich vorzustellen. Was ich dann allerdings zu mir bzw. ins Leben hereinlasse, das soll nicht die Angst bestimmen, sondern das muss ich selbst entscheiden. Das heißt, die Angst darf nicht zur Obsession werden. Sie soll nicht die Kontrolle über mein System übernehmen. Ich muss sie immer wieder aus dem Zentrum des Geschehens nehmen, sie gleichsam auf meine Schulter setzen, oder in die Reihe meines „Inneren Teams“. Sie sitzt dann bei mir beispielsweise neben dem Bandscheibenvorfall, meinem 10jährigen Ich und neben der Liebe. Und ich sage ihr: Du kannst schon sprechen, und zwar dann, wenn ich dich aufrufe. Wenn du ungefragt ins Zentrum tanzt, nehme ich dich zur Kenntnis, werde dich befragen, werde dir aber deinen dir zugewiesenen Platz zurückgeben. Du bist hier nicht Reiseleiterin, du bist Teammitglied. Dafür respektiere ich dich. Das ist ein sehr versöhnlicher Umgang mit der Angst. Gelingt es immer? – nein. Kann man es kultivieren? – ja. Und das hilft dann sehr, gerade in Zeiten großer Verwerfungen.

Jetzt vermute ich einmal, dass wir beide über Jahre geübt haben, mit unseren Ängsten konstruktiv umzugehen. Ich selbst habe ein gewisses Lebensalter erreicht, ich meditiere, ich glaube an die Liebe, das sind alles gute Voraussetzungen. Ich habe mich in meine Gelassenheit hineingelebt. Aber wie trainiere ich den von dir beschriebenen Umgang mit Angst? Meditation ist zum Beispiel nicht unbedingt eine weitverbreitete Technik.

Indem ich selbst Routinen entwickle und da ist jede und jeder eingeladen, das auf eigene Weise zu tun. Das ist keine Sache eines akademischen Abschlusses oder eine ausschließlich intellektuelle Übung. Ich bin ein alemannischer Bergbauernbub und habe vom Leben viele Geschenke mitbekommen: einen guten Naturbezug und ein großes Urvertrauen, ein sehr mächtiges Geschenk. Und dann gibt es noch einige Dinge, die schwieriger waren in meinem „Rucksackerl fürs Leben“. Nämlich mein Körperverständnis. Der Bergbauernbub kam in die Stadt als Erwachsener und hatte tief in sich programmiert: Der Körper ist ein reines Arbeitsinstrument. Eine Cousine von mir brachte in den 80er Jahren Yoga in die Bezirkshauptstadt. Das war nahe an der Gotteslästerung. Selbst Sport war bei den Bauern im alemannischen Hochgebirge nicht vorgesehen. Schwitzen, ohne Arbeit zu verrichten, erschien absurd. Das hat sich mittlerweile sehr gewandelt. Das halte ich für einen Fortschritt – einen Fortschritt für viele. Aber freilich, wenn du dann Kopfarbeiter wirst und in dir drinnen hast „du hast erst richtig gearbeitet, wenn es weh tut“, dann ist das hochproblematisch.

An welche Schmerzen bist Du gelangt?

Ich habe einen Bandscheibenvorfall und einiges andere gebraucht, bis ich jeden Tag meine Körperübungen mache. Es war mir vor 47 nicht beizubringen. Erst musste der Körper rebellieren. Das ist mein Weg. Und jeder von uns ist einzigartig und hat seinen Pfad zu finden. Da gibt es den Waldarbeiter, der am Heimweg mit den Bäumen meditiert. Es gibt die Jägerin, die in der einsamen Morgenstunde eine Art von Gebet hält, ohne dass sie gläubig ist. Es gibt den Fabriksarbeiter, der im Schaumbad Einkehr bei sich selbst findet. Und es gibt die Ärztin, die am Laufband in die Meditation geht. Jedem von uns sind andere Wege zu sich selbst gegeben. Wenn mich meine Mutter in die Maiandacht „gezwungen“ hat, habe ich das nur blöd gefunden und hab mir gedacht, ich „verscheiße“ hier meine Lebenszeit. „Was machen „die alten Tanten“ da hinten?“, hab ich mir gesagt. „Haben die nichts Besseres zu tun?“ Ich habe 30 Jahre gebraucht, um zu verstehen: die meditieren! Auf ihre Art. Nicht mit Yoga, sondern mit dem Rosenkranz. Und es tut ihnen gut. Es ist recht wahrscheinlich, dass die „alte Tante“, die vom Rosenkranz nach Hause kommt, nicht alles kurz und klein schlägt, sondern in dieser halben Stunde eine Form der Selbsteinkehr und Läuterung, eine Versöhnung mit dem Leben und vielleicht eine stille Lebensfreude erfahren und gefunden hat. Also jedem das seine, man kann es kultivieren.


Einkehr bei mir selbst


Wie hast du denn das für dich gelöst in diesem unglaublich dynamischen, stressigen, politischen Alltag? Da ist ja die Gefahr auszubrennen, gerade wenn man so ein Typ ist wie du, der wirklich etwas will und an etwas glaubt, enorm.

Ich habe dieses Urvertrauen, das tief sitzt; zweitens habe ich gute Routinen gehabt, nämlich zum Beispiel drei Kinder. Wenn du nach Hause kommst, kannst du gerade den Bundespräsidenten am Telefon haben oder den Bundeskanzler und der kleine Kratzer am Knie der Vierjährigen schlägt das Telefonat mit denen. Das ist eine Form von Gegenwelt, die dich auch immer wieder in Distanz zu der übergriffigen Welt der Politik bringt. Meine Frau, die da auch immer gut mein Coach war, die Natur, die ich sehr schätze, immer wieder auch digitales Fasten, dass ich das Handy über Nacht grundsätzlich abgeschaltet habe, und jedes Jahr mindestens zweimal fünf Tage. Wanderungen mit mir allein, Freunde treffen, … auch ins Kloster Pernegg zum Fasten hab ich’s geschafft, zumindest ein Mal in diesen Jahren.

Aber es hat nicht gereicht

In der Endphase war so viel Druck in der Kiste, dass es eben nicht gut gereicht hat. Da habe ich mich selbst ein Stück weit übersehen, gerade in meiner Körperlichkeit. Weil ich halt im Verhandeln mit der Partei und mit dem Parlamentsklub und mit meiner Führungsrolle dort, mit meiner Rolle als Vater und als Ehemann, so am Limit war, dass ich mich selbst habe runterfallen lassen. Dann gibt’s keinen Sport, dann geht sich das halt nicht aus, dann gibt’s keine Bewegung, Natur und punktuelle Einkehr bei mir selbst. Das war dann auch der Punkt, wo ich den Bandscheibenvorfall ausgefasst habe. Da habe ich mich nicht ausreichend um mich gekümmert. Ich würde sagen, das war eine Fehlleistung in Sachen Selbstfürsorge.


Parteiübergabe – eine Raketenwissenschaft


Wie funktioniert denn dann so eine Parteiübergabe?

So eine Parteiübergabe ist nahe an der Raketenwissenschaft. (lacht) Deswegen gehen auch viele nicht gut. Zum Beispiel aktuell bei der CDU in Deutschland. Es ist ein Jammer, dies mit zu erleben. Wir haben damals ein zehnseitiges Drehbuch geschrieben, meine Büroleiterin und ich; ein Excelsheet, Zeile für Zeile. Und es ist halt so: Wenn dir die Zeile 32 zündet, bevor die Zeilen 25-31 abgearbeitet sind, dann fliegt die Rakete an die Wand. Wenn es dir allerdings gelingt, dass alles planmäßig abläuft, dann ist das einfach ein Fall für Dankbarkeit, im Schweiße deines Angesichts und auf Basis deiner Arbeit, aber vor allem auch Glückssache, dass es gut gelaufen ist.

Das heißt, du hast dich wirklich intensiv auf diese Übergabe eingestellt?

Das war ein halbjähriger Prozess, weil ich es ja entschieden habe zu Weihnachten 2017 und die Übergabe-Pressekonferenz am 7. Mai 2018 war. Dazwischen waren vier Landtagswahlen. Es war klar, dass diese Landtagswahlen in Summe für die Bewegung gut ausgehen müssen, damit sie sich ohne den Gründer gut weiter entwickeln kann. Jeder Mensch ist ersetzbar, aber er ist nicht zu jedem Zeitpunkt gut ersetzbar. Als Gründer gilt es doppelt zu prüfen, ab wann ist es gut zumutbar, die Verantwortung zu übergeben. Sodann braucht es Mut, weil den einzig richtigen Zeitpunkt gibt es nicht. Viele haben sich bei meiner Übergabe gedacht, das ist jetzt das Ende von den NEOS. Aber mir war klar, dass wir über sieben Jahre gute Aufbauarbeit geleistet hatten und dass diese wertebasierte Bewegung eben keine One-Man-Show ist. Sie ist viel mehr und damit nachhaltig tragfähig. Das hat sich mittlerweile auch so bewiesen und ist allgemein anerkannt. Dafür bin ich sehr dankbar.

Du hast mir damals eine Definition von Politik gegeben, die auch die Headline geworden ist „Politik ist der Ort wo wir verhandeln, wie wir miteinander leben wollen“. Was ist denn deine Vision, wie hättest du gerne, dass wir miteinander leben?

In Freiheit und Verantwortung. In Nachhaltigkeit. In Authentizität und Wertschätzung. Diese Kernwerte haben wir in damals in den Mittelpunkt gestellt und die gelten auch heute noch. Das mit dem „Die Politik ist der Ort, wo …“ ist ein Ausfluss davon. Und eine Definition, die jetzt beispielsweise in der internen Facebook Gruppe der NEOS, wo über tausend Leute drinnen sind, auch gelegentlich zitiert wird; oder auch im Parlament habe ich es unlängst in einer Rede gehört. Das freut mich. Das ist eine wertebasierte, inhaltliche Stiftung, die bleibt und auch einen organisationskulturellen Rahmen mitgestaltet.


Die Liebe wohnt in uns


In meinem Umgang mit Firmen bin ich schon längst dazu übergegangen, die Leute, die etwas zu verantworten haben, immer nach persönlichen Einstellungen zu fragen, weil mir das schon als junger Mann klar war, dass diese Trennung zwischen dieser Persona, die ich darstelle, wenn ich mir mein Kapperl als Firmenchef aufsetze, und der Privatperson gar nicht gibt. Ich hab dann irgendwann den Mut gefasst die Leute zu fragen, wie sie es zum Beispiel mit der Liebe halten. Aber sind wir so weit, dass wir etwas wie die Liebe in den öffentlichen Diskurs einbringen können? Ich tu mir leicht, ich gehe zu Verantwortlichen in Firmen und bin in einer dialogischen Situation und dort ist es easy. Da werde ich auch nicht ausgelacht. Aber wenn ich das als politische Partei einbringe, ist das schon zu visionär, öffentlich von der Liebe zu reden?

Visionär, mitunter. Aber möglich. Meine Abschlussrede Ende September 2018 war eine Erklärung der Liebe, und die Liebe kommt darin auch explizit vor. Auch die Achtsamkeit im Miteinander. Es war eine der meistgesehenen Reden, wo ich auch heute noch Zuschriften bekomme von Leuten, die sagen, dass es sie sehr berührt hat. Natürlich war das ein spezifischer Moment, in dem mir das auch zugestanden wurde. Du musst halt das Risiko in Kauf nehmen, dass du abgestempelt wirst als Weichei oder Esoteriker oder mit ähnlichen Zuschreibungen abgewertet wirst. Manche Leute können oder wollen die Liebe nicht nehmen und der Mitbewerb nutzt dies mitunter, um dir zu schaden.

Das Beschädigen von anderen gehört ja offenbar dazu.

Selbst von der Regierungsbank sind bei meinen Reden solche Zurufe gekommen. Ich kann mich erinnern, einmal hat ein Finanzminister bei meiner Rede herausgerufen: „Geh doch Bäume umarmen!“. Die Politik ist das verletzendste Teilsystem unserer Gesellschaft. Ein verletzendes Feld, wo jeden Tag Hundertschaften aufstehen, selbst in so einem kleinen Land wie Österreich, die den Hauptfokus darauf haben: Wie kann ich meinen Mitbewerb verletzen, proaktiv beschädigen – mit Macht, mit Wucht, mit millionenschwerem Ressourceneinsatz. Das kannst du nicht über Nacht ändern.

Mit Liebe?

Auch wenn du sagst „ich bin ein Proponent der Liebe“, bist du diesem Phänomen und diesen Dynamiken ausgeliefert. Und falls du als Parteichefin fungierst, bist du zusätzlich mit dem Umstand konfrontiert, dass du in Materialismus gebunden bist; du brauchst Mittel und Ressourcen, sonst geht gar nichts. Und dass du ans Menschsein gebunden bist. Das bedeutet einen wilden Tanz aus Konkurrenz und Kooperation. Beides ist Conditio Humana. Ich bin nicht einer, der sagt, wir müssen die Konkurrenz vollkommen überwinden und dann wird alles gut. Das ist gar nicht möglich. Wir sind außerzeitliche Wesen, die sich mit Ankunft auf diesem Planeten mit Raum und Zeit und damit auch in Wettbewerb und Kooperation binden. Ich kann das nicht überwinden als Mensch. Ich bin in die Endlichkeit und Knappheit gebettet. Ich kann nicht jeden Beruf ausüben, schwer jedes Land besuchen. Ich kann nicht jede potentielle Paarungspartnerin kennenlernen. Ich kann nicht jedes Hobby erlernen. Und damit bin ich in einem Wettbewerbszustand. Ich kann nicht alles machen, was ich will; das geht sich einfach nicht aus. Ich bin aber auch ein radikal soziales Wesen und in Kooperation geboren. Ja, die Liebe wohnt in uns als die mächtigste Urkraft. Mit vielen Schwestern – die Hoffnung, die Zuversicht, das Mitgefühl, die Empathie, der Respekt. Aber es wohnt auch der Hass in uns, die Missgunst, der Neid … Und noch vieles Andere. Es kommt immer darauf an, was wir füttern, denn das wird wachsen. Insofern bin ich ein großer Fan der Liebe, auch wenn es mir nicht jeden Tag gleich gut von der Hand geht.


Ein Kulturwandel in der Politik ist möglich


Ich schätze die Sehnsucht der Menschen nach der Liebe sehr hoch ein. Das, was du von der Politik geschildert hast, ist natürlich spürbar. Diese Wucht und dieses Verletzen-Wollen. Die politische Bühne ist getragen davon. Es ist, wie wenn man einmal zu oft einen Kriegsfilm gesehen hat, es wird unerträglich. Das geht nicht nur mir so, das ist vielleicht das größte Manko der Politik und der Grund, warum sich so viele Menschen abwenden, oder in einen Zynismus verfallen, oder aber – auch das ist möglich – es als Learning betrachten: Aha, die Welt ist halt offenbar so. Die lernen also von den politischen Vorbildern, dass die Welt Krieg ist. Alles, was ich jetzt geschildert habe, ist höchst unangenehm. Daher die Frage: Muss denn das sein? Ist ein Kulturwandel in der Politik möglich, die ja so eine hohe Vorbildwirkung hat?

Ja. Ein Kulturwandel ist möglich, aber kein absoluter Kulturwandel, sodass nur noch die Liebe regiert. Dazu sind wir als Fleischlinge zu limitiert und zu ambivalent gewickelt. Es haben viele probiert, dass gar alles gut wird – zum Beispiel mit der Ideologie des Kommunismus einen besseren Menschen zu erschaffen: Wir sind alle gleich! Herausgekommen sind allein bei Mao Zedong zwischen 40 und 55 Millionen Tote. Verreckt, vergewaltigt, ermordet. Hier hat sich etwas, das gut gemeint war, extrem rasch in ein Schreckensregime verwandelt. Dasselbe ist auch in der Religion möglich. Im Namen Jesu die Liebe leben wollen, kann sich in strukturell faschistische oder gar mörderische Züge wandeln – von den Kreuzzügen über die Kolonialisierung bis zu Verfehlungen in Erziehungsheimen in unseren Breiten. Wir erleben das in Ökodörfern, die sich mutig anschicken, das Neue leben wollen und dann an irgendeinem Punkt in strukturelle Gewalt abgleiten. Wir konnten es in Kunstkommunen beobachten, die das Gute, Wahre und Schöne kultivieren wollten und beim systematischen Kindesmissbrauch anlangten. Wir müssen uns also immer wieder prüfen, immer wieder hinterfragen, immer wieder in unseren Grundfesten eichen. Die Liebe als tägliche Messgröße ist großartig, aber als absolute, immerwährende Konstante ist sie wohl eher ein Fall fürs Himmelreich, nicht für uns Fleischlinge hier auf Erden.


Gärtner des Lebens


Ich kreise seit geraumer Zeit, glaub ich eh seit zehn Jahren, um die Liebe in der Ökonomie, im Alltag. Ich mache so Babyschritte. Ich frage mich auch jeden Tag: bin ich in der Liebe? Bin ich nicht immer. Geht nicht. Ich propagiere jetzt in meiner Arbeit eine Ökonomie der Menschlichkeit. Sag mal Matthias, bist du denn eigentlich jetzt? Autor, Redner, oder? Wo siehst du jetzt deinen Auftrag in der Welt?

Ich bin ein Gärtner des Lebens. Ich kultiviere soziale Felder. Es geht immer um Lebendigkeit. Es geht um Potentialentfaltung. Und es kommt hinzu: Ich bin ein spiritueller Führer. Ich habe mich lange gewehrt, das explizit anzunehmen, weil es viele Abrisskanten hat und zu vielen Verwechslungen führen kann. In einer rituellen Niederkunft Ende 2019 wurde mir klar, dass ich mich davor nicht weiter verstecken kann und will. Jetzt in der Umsetzung geht das Hand in Hand mit dem Gärtner des Lebens. Ich ist unspektakulär – jenseits von Religionsgründung und Guru-Szene. Ich bin Impact-Entrepreneur, schreibe Bücher, halte Vorträge, bin Organisationsentwickler, Coach, Start-Up Unternehmer, Prozessbegleiter, Vater, Ehemann, Ehrenamtlicher. Aktuell schreibe ich ein Buch gemeinsam mit einem Baum. Manchmal gleite ich in die Gschaftlhuberei ab – da muss ich immer wieder Acht geben, dass ich mich nicht selbst übernehme. Und ich will mich immer wieder selbst prüfen, ob hier nicht das Ego regiert. Gleichzeitig trage ich materielle Pflichten als Familienvater, denen ich mich ernsthaft widme. Ich definiere in diesen Jahren auch mein Verhältnis zu den Themen Geld, Sexualität und Macht neu. Mal schauen, was da rauskommt. Ich merke, das sind Themen, die kulturell und gesellschaftlich besser gewickelt gehören. Das setzt sich mitunter auch bis in mein Leben fort. Ich bin also ein Mann im Wechsel. Ist das nicht spannend!? (lacht)

()


Ein Statement von Matthias zur Ökonomie der Menschlichkeit
Ökonomie der Menschlichkeit
Webseite von Matthias Strolz