Ein Gedicht aus dem venezianischen Zyklus – Gedichte über die Liebe und ein Abschied.

Keine Taube, die noch alle
ihre roten Klauen hätte
Abgehackt die linke, rechte
Eine hat um’s Bein ein Tau
Irgendwo ist eine Falle
Der Tod hat seine Ruhestätte
Wo einst das Leben mit ihm zechte
Wo? Man weiß es nicht genau

Eitelkeit trägt bunte Steine
Darum sind die Gondeln schwarz
Und man feiert hinter Masken
Die Seele ist schon längst verkauft
Würde gibt es heute keine
Weil sie sich oft wie Touristen
Im Gewirr der Stadt verlauft
Und dann ein halbes Jahr verschnauft

Fünfhundert Brücken, null Verbindung
Dafür bringt die Eisenbahn
Täglich Millionen Sprachen
Aus der weiten Welt heran
Die Biber bau’n heut wie Lemuren
Der Vino schmeckt wie Lebertran
Willst du gut essen, koch dir was
Sag dem Herrn von nebenan

Dass der Tod heut Hochzeit hält
Und er sucht noch eine Braut
Einwohner gibt’s hier keine mehr
Die sind also nicht gemeint
Das Holz und auch der Stein zerfällt
Wer weiß, wie man Palazzi baut?
Häuser ja! Aber Paläste?
Wo ist die Kraft, die uns vereint?

Da kommen sie, die wilden Horden
Die Reisegruppe Attila
Gefolgt von Napoleon Tours
Beherden Plätze, ristorante
Gemeinsam lässt sich leichter morden
Es war schon stets wer vorher da
Welcome, bueonos dias und bonjour
Ich war’s nicht, es war meine Tante

Angeblich zehren die Gezeiten
An den Festen dieser Stadt
Unterspül’n die Fundamente
Machen g’rade Mauern krumm
Doch tun sie das seit Ewigkeiten
Wer all das überdauert hat
Schickt das Argument in Rente
Und sieht sich nach der Wahrheit um

Nicht das Wasser, nicht die Hitze
Nicht die Luft und nicht der Tod
Nicht die Afa, nicht die Gier
Nicht einmal all das Geschiebe
Nicht die sterbesüßen Witze
Nicht der vielen Tauben Kot
Es ist das Eigentliche hier
Der Verlust an wahrer Liebe

Die Lagune tümpelt träge
Dort, wo Torcello noch erzählt
Von der Wiege und dem Atem
Den sie einstmals eingehaucht
Die Gondel pflügt wie eine Säge
Durch den Pfuhl, der sich vermählt
Mit den Inseln und den Träumen
In die der wache Geist eintaucht

Danke dir für dieses Sterben
Danke dir für diesen Tod
Vielleicht, wer weiß, stirbst du so lange
Dass man es letztlich Leben heißt
Und es sind alles bloß Gebärden
Die man vergass, verlor, verbot
So ist mir um dich nicht bange
Weil Sterben Ewigkeit verheißt