Aus dem Magazin WEGE, 2017
Die Sorge um die Gesundheit ist die weit verbreiteste Krankheit, an der wir leiden.
Onkel Erwin zum Beispiel. Hat Alkohol nie angerührt. Alle fünf Jahre einmal ein kleines Bier. Mehr nicht. Jetzt ist er alt, geht zum Arzt und der sagt ihm: „Ei, ei, da müssen wir aber ein bisschen den Alkohol einschränken, mein Herr.“ Onkel Erwin ist ratlos und siecht dahin. Das ist das erste Problem mit der Gesundheit. Wenn du einmal krank wirst, weißt du nicht, womit du aufhören sollst, damit es dir wieder besser geht. Da gibt es nichts, leider. Nichts, das man einschränken oder verbessern kann. Nichts, dem man die Schuld geben kann.
Und Tante Frieda. Viel frische Luft, harte Arbeit im Freien. Lieblingsspeisen: Krautsuppe und gedünsteter Kohlrabi. Kein Fleisch, kein Alkohol, kein Nikotin. Und zur Strafe ist sie 100 Jahre alt geworden.
Gesundheit wird maßlos überschätzt. Natürlich ist der Vorteil von Gesundheit, dass sie gesund macht. Aber es gibt doch auch soetwas wie Sinn im Leben. Höre ich doch die ganze Zeit. Predigen ja alle. Coaches, Therapeuten, Ratgeberecken in den Zeitschriften. Also was jetzt: soll ich gesund leben oder sinnvoll?
Sie kennen doch Keith Richards, das wandelnde Drogenendlager. Den Mann, den man für einen Zombiefilm nicht schminken müsste. In den 70er Jahren sah er schon genau so aus mit seinen 22.000 tiefen, von einem wahnsinnigen Bauern angelegten Furchen im Gesicht. Da gab es eine amerikanische Popmusik-Zeitschrift, die jährlich diejenigen Popstars gekürt hat, die wahrscheinlich das nächste Jahr nicht überleben werden. Von 1973 bis 1979 hat Keith Richards dieses Ranking gewonnen. Dann kam der Tod. Für die Musikzeitschrift. Keith Richards lebt heute noch.
Ich schwöre Ihnen: der Mann ist längst aus dem Alter heraus, wo man stirbt. Sie werden sehen, Keith Richards stirbt nicht. Die Zaudernden und Ängstlichen sterben. Die Weicheier, die mit antiseptischem Mundschutz auf die Straße gehen und diejenigen, die einen Herzinfarkt bekommen, wenn man sie anhustet.
Machen wir uns nichts vor: die Frage „Nervengift ja oder nein?“ ist falsch. Die einzig wichtige Frage ist: welches? Hier heißt es einfach probieren, wählen und abwägen. Nahrungsergänzungsmittel, Leberkässemmel, Cola. Nicht jedes Gift ist für jeden geeignet. Da muss man wohl ein paar Fehlgriffe und Sackgassen in Kauf nehmen. Aber irgendwann hat man dann seinen ganz persönlichen kranken Weg zum Glück gefunden.
Es ist nicht der ungesunde Lebenswandel, der krank macht, sondern sein schlechter Leumund. Wir sterben nicht vom Tod, sondern vor der Angst davor. Schauen Sie doch bloß in die karzinogenen Gesichter derjenigen, die partout keinen Alkohol vor 18 Uhr trinken. Weil sie das vor ihren Kindern, den Kunden und ihrem Beichtvater nicht verantworten können. Um Punkt 18 Uhr gibt es dann ein Glaserl, aber bitte nur eines. Bestellt mit spitzem Mündchen. Um 20 Uhr dann der Damenspitz, pünktlich zu den Spätnachrichten der Herrenrausch. Und was bringt sie in’s Grab? Der tägliche Rausch? Nein, das schlechte Gewissen vor 18 Uhr.
Kris Kristofferson sang einst: The beer I had for breakfast wasn’t bed so I had one more for desert. Wer so frühstückt, mag an manchem leiden, doch an einem nicht: Gesundheitswahn im Endstadium. Sie kennen diese schreckliche Krankheit sicher. Gesundheitswahn beginnt mit Tofu und endet unheilbar mit flüssigem Gras, auch „Grüne Smoothies“ genannt.
Die Sorge um die Gesundheit ist die weit verbreiteste Krankheit, an der wir leiden. Wir brauchen bitte die Bakterien und den Virenbefall, den Rausch und den Exzess. Der Kontakt mit dem Ungesunden kann nicht früh genug beginnen. Wie will man denn als Erwachsener einer Anfechtung begegnen, wenn man nicht als junger Mensch schon mit ihr vertraut ist? Ich höre immer, dass Rauschmittel eine Gesellschaft gefährden, aber wie gefährdet und gefährlich mag eine Gesellschaft ohne Rauschmittel sein? Mögen wir es besser nicht darauf ankommen lassen.
Das dauernde Schielen auf Leberwerte und Triglizeride, Cholesterin und Blutdruck macht den Geist verrückt. Was haben wir von einer Gesellschaft von kerngesunden Wahnsinnigen? Nicht zu reden, von den enormen Kosten für die Allgemeinheit, welche durch gesunde Menschen verursacht werden. 50 aktive Berufsjahre und dann 60 Jahre Pensionsanspruch. Gesundheit ist Sabotage am Staat.
Im übrigen hat Gesundheit eine unsympathische Eigenheit, die zu wenig beachtet wird. Man spürt sie nicht. Da ist einfach nichts. Keine Regung, Empfindung, nichts Wahrnehmbares. Was soll das? Dauernd heißt es, man soll Kontakt mit sich aufnehmen und sich spüren. Und dann kommt man uns mit dieser völlig gefühllosen, unfühlbaren Gesundheit. Unspürbar, unbrauchbar. Gesundheit – das ist nur etwas für Kranke.