„Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht,
dass sie nicht hinter dir her sind“
Joseph Heller in Catch-22
Man soll nicht zu allem „Faschismus“ sagen. Da fühlen sich die Leute beleidigt und wählen dann die Faschisten justament. Das will ich natürlich nicht, also sage ich es nicht mehr. Kennzeichen des Faschismus war ja immer die Mobilisierung der Massen. In den 30er Jahren war es unmöglich, politisch gleichgültig zu sein. Heute geht das schon. Man kann völlig gleichgültig sein, in die Wahlzelle gehen und die äh dings wählen. Also ist es nicht Faschismus, was wir erleben. Die Referenz stimmt nicht.
Es sind „Populisten“. Bei diesem Wort möge man bleiben. Das kommt von populus, dem Volk. Dem Volk nach dem Mund reden, sich ihm mit politischen Versprechen anbiedern (etwa in Form von Anlassgesetzgebung), ist allen politischen Colours vertraut. Ein Wesen des Populismus ist es, in das gute Volk und die bösen Eliten einzuteilen, denen man selbst als Populist natürlich niemals nie angehört. Das hat schon was, dennoch scheint mir der Begriff zu schwach. Er erklärt nicht annähernd, was gerade abläuft. Auch die im politischen Diskurs vorgeschlagenen Worte „Nihilismus“ oder „Technofaschismus“ mögen da und dort stimmen. En general aber ist es Paranoia, finde ich.
Kurzer Einschub: das Vesäumnis der Erupoäischen Demokratien
Im Magazin „Datum“, Ausgabe 10/25, hat Anatol Vitouch einen exzellenten Artikel geschrieben, wo er das Versäumnis der Europäischen Staaten, das seit gut 20 Jahren unaufhaltsam zur heutigen politischen Situation geführt hat, erklärt: „In Hinblick auf die Demokratie im 21. Jahrhundert zeigt Jürgen Habermas, dass sie im Korsett des Nationalstaates prinzipiell nicht mehr das erreichen kann, was in der zweiten Hälfte des 20. Jahrhunderts ihren Erfolg ausmachte. Eine globalisierte Wirtschaft und ihre Begleiterscheinungen – vom World Wide Web über multinationale Konzerne bis zum Klimawandel – können von kleinen und mittelgroßen nationalstaatlichen Akteuren nicht mehr erfolgreich eingehegt und im Sinne des Gemeinwohls gesteuert werden. Die Folge ist zwangsläufig eine schrittweise Entfremdung der Bevölkerung von ihren gewählten Repräsentanten, die zunehmend als unfähig erlebt werden […]. Seit mindestens 20 Jahren leben wir in einer Welt, in der unsere wesentlichen politischen Probleme einzig und allein europäisch lösbar wären und daher durch europäische, demokratische Prozesse entschieden werden müssten. Ebenso lange aber verweigern Sozialdemokraten wie Konservative diese Einsicht mit eselsgleicher Sturheit. Sie verstehen nicht, dass sie dabei sind, die Demokratie in ihren Nationalstaaten zu verspielen, weil sie die Demokratisierung und Politisierung der einzigen Arena blockieren, in der der Wille des Volkes machtvoll wirksam werden könnte, der Europäischen Union.“
Die Nationalstaaten sind überholt, aber niemand hat sie in die Zukunft geführt, darum verbeißen wir uns jetzt in ihre Überreste. Wir sind wir, Ausländer raus, Zölle, Abschottung, Einigelung im sozialen Bunker. Anstatt vorwärts in das globale Miteinander zu gehen, suchen wir den Regress. Angesichts schier unlösbarer Probleme wollen wir zurück in eine scheinbar idyllische Vergangenheit. Funktioniert bekanntlich nicht, findet aber statt.
Paranoia: nichts ist zu blöd, um nicht geglaubt zu werden
Darum eben dieser Fasch…, Populis, …, diese Sehnsucht nach Errettung durch Kräfte der Vergangenheit, die in einen Zustand der Paranoia geführt hat. „Verschwörungstheorien überschwemmen die Medienwelt – von Behauptungen, wie Brigitte Macron sei als Mann geboren, bis zur völlig absurden Geschichte, Israel habe Charlie Kirk getötet“, wundert sich Sohrab Ahmari, früherer Journalist des Wall Street Journal und rechtskonservativer amerikanischer Kommentator. Nichts ist heute zu blöd, um nicht geglaubt und nicht möglich zu werden. Donald Trump, der die Militärs zum Krieg gegen das eigene Volk aufruft, will den Friedensnobelpreis haben. Schwer verdienende Politiker an der Spitze von Staaten hetzen gegen „die da oben“, womit sie per definitionem selbst gemeint sind. Aber niemand ihrer Anhänger findet das lustig, sondern hetzen und toben in einem irren Veitstanz mit.
Die Menschheit, ein Trauma
Die Menschheit ist von einem langen, gewalttätigen und heute völlig ratlosen Patriarchat traumatisiert. Corona hat ihnen den Rest gegeben. Für viele ist durch die Coronamaßnahmen völlig eindeutig bewiesen, dass „sie“ hinter uns her sind. Da muss man etwas machen. Die eigenen Traumata aufarbeiten wäre gut, aber stattdessen: ganz rechts außen wählen und alles kaputt machen, was humanistisch ist. Wissenschaften, Universitäten, Kunst und Kultur werden niedergemacht. Die Wut, mit der das geschieht, mag mitten im Furor erleichternd sein, in der Auswirkung aber re-traumatisierend. Innerlich spüren auch die Täter, dass sie ihren Lebensfaden abschneiden. Paranoia heißt wörtlich aus dem Griechischen übersetzt „wider den Verstand“. Der Verstand wird aktiv unterminiert und durch Meinungen, Urteile und Wahnvorstellungen ersetzt. Die Menschen sind außer sich. Sie sind durch kein positives Narrativ gehalten.
Rückwärts ist immer die falsche Richtung
Eine Aufweichung von allen Errungenschaften des Humanismus kann an uns Menschen nicht spurlos vorübergehen. Es ist ein Regress, der weit über die idyllische Vergangenheit hinausgeht. Als hätte ein Guttteil der Menschheit beschlossen, die Weiterentwicklung des Projekts Menschheit zu stoppen, die Feststellbremsen zu lösen und in die Vergangenheit zu rasen. Leider weiß niemand, wie man das jetzt bremst. Also rasen wir über die idyllische Vergangenheit (was auch immer das gewesen sein mag) hinaus in die noch tiefere Vergangenheit, zurück in eine Zeit vor der Aufklärung, weit vor Gleichheit, Gleichberechtigung, zurück in tosende Testosteronzeiten, Kriege, zurück bis vor die griechische Philosophie vor 2500 Jahren, …; Rückwärts ist immer die falsche Richtung. Die Entwicklung erfolgt vorwärts. Kann bitte jemand die Notstopptaste drücken?!
Ja, wir können das. Du! Ich!
Ende
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PS.: Sind Sie enttäuscht über das abrupte Ende? Dass jetzt keine Bedienungsanleitung kommt, wie das geht? Das war sie schon: Du! Ich! Inmitten der Paranoia entsteht Heilung, wenn wir wollen. „Wo Gefahr ist, wächst das Rettende auch.“ (Hölderlin). Es gibt keine Rezepte. Nur die Verpflichtung, sich geistig wach und gesund zu halten, Inseln der Zuversicht zu bilden, Zukunftseuphorie zuzulassen. Wenn heute nichts zu blöd ist, um nicht geglaubt und nicht möglich zu werden, dann gilt das auch für das Gegenteil. Nichts kann zu genial und zu wunderbar sein, um nicht geglaubt und möglich zu werden.“ Es muss nur gedacht und gemacht werden.
Zur Erinnerung: Die unerzählte Geschichte.

