Wahrheit suchen

Die Wahrheit ist das ureigenste Ziel philosophischer und wissenschaftlicher Suche. Es schien immer lohnend, sich auf diese Suche einzulassen, weil dadurch Orientierung entsteht. Wenn eine Aussage oder ein Urteil sich mit der Realität deckt, dann haben wir die Idealform von Wahrheit: Evidenz. Dass selbst Evidenzen immer wieder geprüft und manchmal über den Haufen geworfen werden müssen, ist wissenschaftlicher Common Sense. Eine wirklich ewige und felsenfeste Wahrheit können nur Religionen bieten. Die müssen Wahrheit nicht suchen, die haben sie einfach per Verlautbarung.

Alle haben recht, nichts hat Gültigkeit

Im Zuge der Globalisierung der 90er Jahre ist die Welt komplexer geworden und die Gewissheiten sind erodiert. Das heute übermächtige Rauschen von Fake News erstickt Wahrheit, deutet sie nach individuellem Gusto neu um. Jeder ist heute sein eigener Religionsführer geworden und verlautbart unter Applaus seine eigene Wahrheit auf Social Media-Plattformen. Alles ist relativ, nichts scheint zu gelten, jeder darf recht haben. Im Relativismus geht es also nicht darum, dass einzelne Personen „alternative Fakten“ erzählen (solche Menschen gab es ja immer), sondern dass die Mehrheit der Menschen das akzeptiert. Sind wir tatsächlich so verunsichert und verstört, dass wir Meinungen als mögliche Wahrheit stehen lassen und nicht einmal einen Faktencheck einfordern? Wollen wir eine Welt der Beliebigkeit, wo Fakten durch Behauptungen ersetzt werden?

Es mögen viele Antworten stimmen, aber stimmen deshalb alle?

Diese relativistische Haltung wirft ein Problem auf. Wir taumeln in Unsicherheit und Belanglosigkeit. Wir verlieren Halt. Nur weil etwas komplex ist und ein Rätsel mehrere Lösungen haben kann, heißt das ja nicht, dass jede Lösung richtig ist. Nur weil mehrere Antworten richtig sein können, heißt es ja nicht, dass jede Antwort richtig ist. Das hieße ja komplette Gleichgültigkeit. Alles ist im Relativismus gleich gültig. Die mühsame wissenschaftliche Suche nach Evidenz wird plötzlich auf eine Stufe gehoben mit der puren Behauptung am Stammtisch. Wir verwechseln heute Wahrheitssuche mit Meinung. Wir haben das Kind mit dem Bad ausgeschüttet. Nicht mehr Wahrheit suchen und an Wahrheit glauben können, ist eine Selbstaufgabe des Denkens.

Natürlich gibt es Wahrheiten, wo nie mit Evidenz zu rechnen ist. Ist es wahr, dass ein liebevoller Umgang miteinander hilft, Konflikte so zu lösen, dass das Ergebnis für alle tragbar ist? Lassen uns wahre Überzeugungen besser Leben als irrige? Ist es gut, alle sexuellen Orientierungen öffentlich anzuerkennen? Antworten auf diese Fragen unterliegen einer Entwicklung. Was heute wahr ist, war vor zweihundert Jahren undenkbar. Aber sind die Antworten deshalb gleich gültig? Ist es wirklich okay, zu sagen, dass die Anerkennung von Homosexualität genau so Gültigkeit hat wie die Ablehnung und Bestrafung? Ist es wirklich wahr, dass diejenigen, die in Konflikten liebevoll agieren, genau so recht haben, wie jene, die einen Konflikt mit Gewalt lösen?

Relativismus weicht das Hirn auf und macht das Herz hart

Relativismus wirkt heute cool und freigeistig. Doch er weicht das Hirn auf und macht das Herz hart. Ich denke, es lohnt, sich auf die Suche nach den festen Punkten zu machen, welche die Welt aus den Angeln heben können. Es lohnt, die Kräfte der Wahrheitssuche zu aktivieren – in uns, in der Gesellschaft.

 

[April 2025]