Die unerzählte Geschichte

Ich bin die unerzählte Geschichte, die nie Gehörte, nie Gesungene. Niemand nahm mich je in den Mund, niemandem kam ich in den Sinn, niemand erdachte mich. In all den Jahrtausenden blieb ich ungedacht und unerzählt. Wieso das so ist, ist mir nicht verständlich. Soviel Unfug und Untaugliches ist erdacht und erzählt worden, soviel Grausames und Vernichtendes. Warum dann gerade ich nicht? Bei all der Fantasie der Menschen wundert es mich sehr.

Als die Sprache in die Welt kam und mit ihr die Lüge, wusste ich, dass meine Zeit kommen würde. Bei all dem Irrsinn, der in die Welt geschrien wurde, musste es unweigerlich so sein, dass auch ich an die Reihe käme. Ach, wir würden sie die Ohren spitzen! Ach, wie würden Ihre Hirne neu verschalten! Ach, ach. Doch es geschah nicht. Bis heute nicht.

Was ich alles hätte bewirken können, anfangs vielleicht nur in kleinem Kreis, in einer Familie, in einem Kreis von Freundinnen, in einem Dorf. Ich hätte Kreise gezogen, wie alles einmal in die Welt Gesetzte. Jede Dummheit sickert in irgendjemandes Gehirn, wo sie sich festpflanzt und Blüten treibt. Von dort springt der Same in andere Hirne und hofft auf fruchtbaren Boden. Irgendwo findet ihn jede Geschichte, die gute wie die schlechte, die heilsame wie die vernichtende. Sie muss nur einmal erzählt worden sein, dann ist sie unausrottbar. Dann bleibt sie bis in alle Ewigkeit. Dann trägt sie Früchte, beherdet Hirne, manchmal alle, oft viele, niemals keines. Ich aber bin unerzählt geblieben. Niemand weiß von mir, niemand kennt mich. In keinem Gedächtnis bin ich zuhause, nicht einmal verdrängt und verschüttet in jemandes Unterbewusstsein. Wie denn auch? Das gelänge nur, wenn ich ein einziges Mal nur erdacht, erzählt oder geschrieben worden wäre. Mehr bräuchte ich nicht. Bloß eine kurze Aufmerksamkeit, eine einzige Synapse.

Doch ich bin bislang unerzählt. Ich bin bloß Potentialität. Immer noch. Im Raum der Potentialität sind all jene Dinge, die potentiell möglich sind. Nicht alles, was möglich ist, geschieht auch. Da können die Menschen oft auch sehr froh sein. In meinem Fall ist es bedauerlich, das muss ich schon sagen. Denn ich bin die heilsame, augenöffnende Geschichte schlechthin. Es gibt viele Heils-Geschichten, ich weiß. Doch sie sind fast alle mit Unfug garniert, mit Religion, Kitsch, Besserwisserei. Das wird immer gerne zur Erkenntnis dazugeklebt, angeschraubt, draufgepappt. Irgendein Mensch muss das Heil ja doch immer mit einem Stein aus seinem Lebensrucksack beschweren und es dann den anderen als Wahrheit verkaufen. So ist es mit den Heilsgeschichten.

Die Menschen glauben an die Wahrheit nur im Plural. Das ist die Ernüchterung der Seelen und die Auflösung der Wahrheit in der großen Suppe an Wahrscheinlichkeit. Es ist der Deal, den sie eingegangen sind. Ich lass dich deine Wahrheit erzählen, dafür darf ich meine erzählen. Jeder darf seine erzählen und alle haben recht. Meine ist die beste Wahrheit, finde ich. Aber ich bin aufgeklärt und lasse dir die Deine. So geht es dahin mit den Geschichten, die erzählt werden. Eine nach der anderen.

Nur ich werde nicht erzählt. Bislang nicht. Irgendwann werden die Menschen sagen: schade, dass sie nicht früher erzählt worden ist. Das hätte alles früher ins Lot gebracht. Aber das wäre kein Fehler, denn sobald ich in der Welt bin, bin ich da. Es wäre alles gewonnen.

Vielleicht sagt jemand: es muss doch eine andere Geschichte geben als jene, die wir uns dauernd in Variationen erzählen! Eine bessere, die beste von allen. Was, wenn es eine Geschichte gäbe, die einfach nur wahr ist? Das müsste man doch spüren, so wie man die Liebe spürt. Die Liebe ist der hellste Moment der menschlichen Seele. Wenn dieser Blitz einschlägt, braucht es keine Erklärung. Das ist jenseits von allem. Die Liebe ist heller als das hellste Licht. Gibt es diese einfach wahre und heilsame Geschichte? Die alles zauberhaft verbindet. Wo plötzlich alles aufgehoben ist, weil es angehoben wurde, hinauf, dort wo der Überblick über die Überblicke möglich ist. Dort wo alles diaphan und durchsichtig wird. Wo alle sagen können: ach, so ist das also.

Ja, wenn das jemand glauben könnte, ohne jeglichen Machtanspruch, ohne Gier, ohne kriegerische Absicht. Wenn das jemand glauben und denken könnte, dann wäre dieser Mensch schon auf der Spur. Und mit ihm alle Menschen. Natürlich wäre ich noch weit weg, ich selbst wäre noch im Dunkeln, aber der Grundgedanke wäre richtig. Diese eine Geschichte, die alles ins Licht wendet. Das bin ich. Die unerzählte Geschichte.

Ich warte noch. Ich habe Zeit. Ein Kind wird kommen.